Über - Leben - Not - Wendigstes

Predigt zu Mt 4,4 und dem Objekt „Schlitten“ von Joseph Beuys
anlässlich des 25. Todestages des Künstlers am 23. Januar 2011

I. Joseph Beuys - verstehen
An Joseph Beuys scheiden sich die Geister.

Für die einen: ein grenzenlos provokanter Spinner, der irgendeinen Alltagsmüll zu Kunst erklärte. Und für die anderen ein Schamane, ein Genie, der die Kunst revolutionierte und in neue Dimensionen führte.

Ich persönlich bewege mich zwischen diesen Extremen, bin weder Feind noch Jünger, sondern lediglich ein Mensch mit zwei Augen im Kopf, ein wenig Lust am eigenen Denken, Neugierde und Offenheit… das reicht eigentlich schon zur Begegnung mit Beuys und anderen Künstlerinnen und Künstlern.

Die Auseinandersetzung mit ihnen und natürlich auch mit Beuys gehört für mich zur Redlichkeit meines eigenen Urteils.

Wenn ich mich nicht wenigstens redlich gemüht habe, einen Menschen zu verstehen, kann ich auch nicht redlich sagen, wie ich mich zu ihm, seinem Denken und Tun stelle.

Der redliche Versuch, einen Menschen zu verstehen ist der Auftrag der Soziabilität des Menschen, nämlich seiner Fähigkeit, soziale Beziehungen aufzunehmen und zu gestalten, sowie seiner Sozialität, nämlich seines Angewiesen-Seins auf Anerkennung.

Weil ich mit anderen zusammenlebe, bin ich aufgefordert, sie zu verstehen. Und weil ich darum weiß, dass Anerkennung für mich lebens-not-wendig ist, kann ich sie anderen nicht verweigern.

Insofern ist es eine Grundbedingung des Menschseins, zu versuchen, andere zu verstehen.

Beuys ist mir freilich fremder als z.B. meine Frau oder meine Kinder.

Aber dennoch muss ich doch auch in der Ehe und in der Familie mich stets darum bemühen, meinen Partner, meine Partnerin, meine Kinder zu verstehen.

Ich muss Beuys ja nicht gleich heiraten sollen…

Geht auch nicht, denn der ist ja schon tot, seit 1986, und zwar, und darum setze ich mich heute mit ihm auseinander, seit dem 23. Januar 1986, heute auf den Tag von 25 Jahren. Geboren wurde er 1912 in Krefeld.

II. Jeder Mensch ist ein Künstler – Der erweiterte Kunstbegriff
Zum Einstieg habe ich ein Kunstwerk ausgewählt, das der Jahreszeit entspricht:

Wir brauchen einen Schlitten, Filz, eine Stablampe, Fett und Rolladenschnur.

Da fragen sie sich natürlich: „Das soll Kunst sein?“ und sagen: „Das kann ich auch!“

Sehen Sie, das ist das erste, was wir von Joseph Beuys lernen können:

„Jeder Mensch ist ein Künstler“, das ist sein Credo, sein künstlerisches Glaubensbekenntnis, das uns die Angst vor der Kreativität nimmt.

Beuys spricht vom „erweiterten Kunstbegriff“:

Die Kunst erweitert er von der Enge der akademischen Kunstrichtungen, von Malerei und Bildhauerei zum Leitmodell des Lebens.

Kreativität und schöpferische Tätigkeit, das ist das Eigentliche im menschlichen Leben.

Weil ich ihm darin folge, darum zeige ich Ihnen kein Bild von dem Schlitten.

Ich traue Ihnen zu, dass Sie sich ihr Bild davon machen, auch ohne ein Bild zu sehen. Es mag anders aussehen, als der tatsächliche Schlitten von Beuys. Na und? Sie sind ja auch Künstlerin und Künstler!

Den Beuys-Schlitten finden Sie übrigens z.B. in Bonn im Kunstmuseum.

III. Der Verweischarakter der Kunst – und des Glaubens.
Nun ist das Künstlerische an diesem Schlitten natürlich nicht einfach an der Oberfläche zu finden. Gerade darum fällt es vielen Menschen so schwer, Beuys als Künstler zu akzeptieren.

Man muss schon ein wenig Ahnung haben, um sozusagen dahinter zu kommen, worum es geht.

„Dahinter-Kommen“ ist ein gutes Stichwort. Denn für Beuys hat das Material Verweischarakter: Es verweist auf etwas Dahinterliegendes.

Wir sind als Christinnen und Christen darin ja nicht ungeübt, hinter den Dingen mehr als nur das Ding zu sehen:

Ich brauche nur mal die Taschenlampe nehmen, und fragen, was ihnen dazu einfällt. Ganz schnell wird das Stichwort „Licht“ fallen. Und was fällt ihnen zum Stichwort Licht ein?.. Das dürfte, auch wenn wir nicht gerade Advent haben, eine ganze Menge sein: Licht ist Wärme, ist Orientierung, ist Herrlichkeit, ist Epiphanie - Erscheinung usw. Das kennen wir aus der Kirche, dem Kirchenjahr, der christlichen Ikonographie…

Bei „Fett“ und „Filz“ ist das für uns schon etwas schwieriger. Kommt in der christlichen Symbolwelt weniger vor.

Versuchen wir es trotzdem:

Fett zeigt die plastischen Extreme von chaotisch und geformt.
Es ist absolut wärmeabhängig.
Es transformiert sich von klarer Form bis hin zu diffusem Verlaufen.
Es ist ein Material, das selbst in die menschlichen, wie Beuys sagt „Erwärmungsvorgänge“ einbezogen ist: Nahrung, Heilung, Kosmetik. Fett verbrennt im Körper, setzt Wärmeenergien frei und erweist sich so überaus dynamisch.

Auch Filz ist so ein Wärmesymbol: Es speichert die Wärme, isoliert sie und schützt den Menschen vor den Einflüssen der Kälte. So ermöglicht Filz ein Wirken in Kälte, Widerstand also gegen Erstarrung, Abwehr gegenüber allem Einfrieren.

Wichtig ist auch die Beschaffenheit des Filzes: Es handelt sich um eine gestampfte Masse, bei der Tierhaare und Wolle miteinander vermischt werden, sich verkleben und verschlingen.

Für Beuys hat dies einen Hinweis auf die soziale Dimension des Menschen: Er kann sein Verwiesen-Sein auf andere nicht abstreifen. Nur im Zusammenwirken mit anderen kann er den Gefahren des Lebens wehren. Gemeinschaft, Gesellschaft, ist lebensnotwendig.

Und der Schlitten? Ist ein Transportmittel unter extremen Bedingungen, wo Dynamik, Fortbewegung auf andere Art nicht möglich sind.

Für Beuys war sein Schlitten mit dem Fett, dem Filz, der Lampe so etwas wie eine Überlebensration. Er verweist auf das, was der Mensch zum Leben braucht: Wärme, Bewegung, Leben in Beziehungen, Orientierung.

Im Hintergrund steht ein biographisches Erleben. Als Soldat, er war Bordfunker, wurde Joseph Beuys auf der Krim abgeschossen. Nomadische Tataren retteten ihn auf einem Schlitten in eine Filzdecke gehüllt, fetteten die Brandwunden zur Heilung, retteten ihm das Leben. So jedenfalls seine Geschichte.

Wir verstehen jetzt besser, warum Beuys seine Schlitten als Überlebensration versteht.

Dabei geht es ihm nicht um das Materielle, sondern um den Verweis des Materiellen auf das Geistige:

Filz und Fett sind in seiner Kunst wichtig, weil an ihnen die Wärme im Zusammenleben als Voraussetzung des Lebens, als das was lebensnotwendig ist, was im Zweifel die Not des Lebens wendet, deutlich wird.

Mit diesem Verstehen nähern wir uns dem biblischen Text:

IV. Der Mensch lebt nicht vom Brot allein
„Der Mensch lebt nicht vom Brot allein“ - Beuys Schlitten lässt fragen, was zum Leben notwendig ist. Allein hier schon berührt sich der Künstler mit dem biblischen Text, der uns die Frage vorlegt, was im Leben und zum Leben wirklich wichtig ist.

Aber wenn für Beuys das Materielle auf das Geistige verweist, dann könnte es doch noch mehr zu entdecken geben. Daher will ich noch weiter fragen, zum Beispiel:

1. Was hat beispielsweise der Filz mit dem Wort vom Brot zu tun?
2. Was hat das Kunstwerk "Schlitten" mit Christus zu tun?
3. Was hat die christliche Botschaft mit Beuys zu tun?

Zu l.: Was hat beispielsweise der Filz mit dem Wort vom Brot zu tun?

Wir haben gehört:
Für Beuys verweist das Materielle auf Geistiges. Es bildet das Geistige in die Wirklichkeit ab. Hinter dem Material steht sozusagen ein geistiger Gedanke. Gerade darum ist das Materielle nicht bedeutungslos:

Das Material Filz, haben wir gehört, ist eine ganz eigene Aussage, die eben mit diesem Material gegeben ist. Und nachdem uns Beuys dafür die Augen geöffnet hat, ist uns das einsichtig. Wir erkennen, dass das nicht willkürlich ist, dass er den Filz wählte, um etwas über die Notwendigkeit der Wärme, der Beziehungen, für das Überleben der Menschheit auszusagen.

Warum erinnere ich an diesen Zusammenhang von Materiellem und Geistigem? Weil dieses Ineinander von Materie und Geist auch Grundlage unseres Brotwortes ist und nicht vergessen werden darf, soll dieses Wort nicht angesichts des Hungers in der Welt zum Zynismus verkommen.

Wenn Jesus sagt: "Der Mensch lebt nicht vom Brot allein", dann zitiert er damit das 5. Buch Mose und erinnert an die Geschichte Israels in der Wüste, an eine Geschichte, in der die Sättigung voranging und zu einer höchst spirituellen Erfahrung wurde: "Gott demütigte dich und ließ dich hungern und speiste dich mit Manna, das du und deine Väter nie gekannt hattet; auf dass er dir kundtäte, dass der Mensch nicht lebt vom Brot allein, sondern von allem, was aus Mund des Herrn geht." (5. Mose 8,3)

Soviel Zitat mag genügen um deutlich zu machen, dass der Materie Geistiges innewohnt.

Dem Glauben wird Brot zu mehr als Brot, denken sie nur ans Abendmahl. Dem Glauben wird das Alltägliche zum Abbild des Besonderen, das Gewöhnliche auf diesem Weg zum Wunder.

Mögen die Rationalisten längst erklären können, was das Manna in der Wüste war, dem Glauben bleibt es, was es ist: Himmelsbrot, Gabe Gottes zum Leben, ohne die das Leben verhungert. Darum lebt der Mensch nicht allein vom Brot.

Der Stumpfsinn mag nichts anderes sehen als Filz. Beuys aber sieht das „Mehr“ darin, die geistige Dimension, ohne die das Leben erfriert.

Das Alltägliche wird zum Abbild des Besonderen, Geistigen, Heiligen.

Übrigens: Sieht man auf Christus, sieht man auch die umgekehrte Perspektive, nämlich wie das Heilige profan wird, das Geistige materiell, das Besondere alltäglich.

Das Wort wird Fleisch. Die Inkarnation verweist uns auf das Leibliche, das Materielle, Menschliche, um in ihm das Göttliche, das Geistige zu entdecken.

Im Grunde ein hoch romantisches Programm.

Überlebens Not Wendig, weil der bloße Materialismus das Fressen höher hängt als die Moral, eine bloße Vergeistigung aber die Askese dem Teufel in die Hand spielt, die Verbindung von Beidem aber diese Welt und diesen Menschen im Licht der Möglichkeiten sieht, die, - als Christ sage ich - : um Gottes willen, in ihnen ruhen.

Zweitens und kürzer: Was hat der Schlitten mit Christus zu tun?
Sehe ich auf den Kontext unseres Bibelzitates, wo Jesus vom Teufel versucht wird, und ihm widersteht, bin ich versucht zu sagen: Nichts.

Denn Jesus lässt nicht mit sich Schlitten fahren. D.h. er lässt sich nicht von fremder Macht beherrschen, widersteht der Bemächtigung durch den Teufel.

Christus, der wahre Mensch, zeigt die Bestimmung des Menschen zur Freiheit, eine Bestimmung, der der Mensch, solange er lebt, nachläuft, die ihm Herausforderung und Ärgernis bleibt sein Leben lang. Denn Freiheit verunsichert, ist schwer zu leben:
Denken Sie nur an das Murren Israels in der Wüste: Zurück an die Fleischtöpfe Ägyptens, weil dort alles sicher, geordnet und klar ist.

Dieses Programm der Freiheit befreite die Menschen nicht nur, sondern es machte ihnen auch Angst. Denn es fragt ganz radikal nach dem Ich und nach meiner persönlichen Entscheidung. Das verunsichert.

Seinerzeit ging von Beuys und seiner Kunst eine große Verunsicherung aus. Ja, Menschen bekamen es mit der Angst zu tun. Weil ihnen eine Kunst begegnete, die mit Sicherheiten, mit Konventionen brach, die herzerfrischend individuell war und nötigte zu fragen: „Was denkst du?“, „Wer bist du?“, „Welche Energien schlummern in dir?“

Für viele von uns ist diese Angst von Beuys und seiner Kunst gewichen, haben wir doch inzwischen genügend Hilfe, sie zu verstehen und sie damit beherrschbar zu machen.

Was aber ist mit der zeitgenössischen Kunst, mit ihrer Provokation, mit ihrer Infrage-Stellung unserer Ordnung und unserer Person?

Viele Menschen haben Angst vor der Kunst. Sie mögen sie anders benennen.

Warum nicht auch vor dem Glauben, warum nicht auch vor der Bibel?

Protestantisch gesehen müsste vom Bibellesen, müsste von der Predigt eine ähnliche Angst, eine ähnliche Verunsicherung ausgehen, weil doch auch der Glaube das „Ich“ in Frage stellt, einen Menschen nötigt, er selbst, sie selbst zu sein.

Drittens und letztens: Hier sehe ich auch die Verbindung zwischen Beuys und dem christlichen Glauben.

Der christliche Glaube lehrt, den Menschen in seiner Potentialität zu sehen, das heißt in den Möglichkeiten, die ihm von Gott her gegeben sind, die viel weiter und viel offener sind, als der Mensch aus sich heraus zu sein vermag.

Beuys konnte sagen: „Jeder Mensch ist ein Künstler". Jeder Mensch ist ein Träger von Kreativität, von Energie, von Geist und Charisma.

Da sehe ich die Lebens-not-wendigste Berührung zwischen beiden: wo der Welt und dem Menschen eine unüberholbare Würde und eine unüberbietbare Potentialität zuerkannt werden, damit beide, Welt und -"Mensch, nicht dem Materialismus .preisgegeben werden.

Es geht um mehr als nur ums Fressen, gerade in diesen Tagen, wo Dioxin in der Schweinemast uns den Appetit verschlagen müsste.

Uns nicht fangen zu lassen vom bloßen Materialismus, sondern dahinter schauen, Gottes Willen suchen, seine Möglichkeiten entdecken, das ist zu allen Zeiten Überlebensnotwendig.

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