Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist...
Predigt zu Mich 6,2-8
am 23.10.2016 im Dietrich-Bonhoefferhaus
Höret, ihr Berge, wie der HERR rechten will, und merkt auf, ihr Grundfesten der Erde; denn der HERR will mit seinem Volk rechten und mit Israel ins Gericht gehen!
»Was habe ich dir getan, mein Volk, und womit habe ich dich beschwert? Das sage mir!
Habe ich dich doch aus Ägyptenland geführt und aus der Knechtschaft erlöst und vor dir her gesandt Mose, Aaron und Mirjam.
Mein Volk, denke doch daran, was Balak, der König von Moab, vorhatte und was ihm Bileam, der Sohn Beors, antwortete; wie du hinüberzogst von Schittim bis nach Gilgal, damit ihr erkennt, wie der HERR euch alles Gute getan hat.«
»Womit soll ich mich dem HERRN nahen, mich beugen vor dem hohen Gott? Soll ich mich ihm mit Brandopfern nahen und mit einjährigen Kälbern? Wird wohl der HERR Gefallen haben an viel tausend Widdern, an unzähligen Strömen von Öl? Soll ich meinen Erstgeborenen für meine Übertretung geben, meines Leibes Frucht für meine Sünde?«
Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was der HERR von dir fordert, nämlich Gottes Wort halten und Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott.
Liebe Gemeinde, gesetzt den Fall,
Jabar al-Bakr wäre dazu gekommen, zu tun, was er wohl vorhatte: Hätte eine
große Menge Sprengstoff zünden können, zum Beispiel im viel zu engen und stets
überfüllten Flughafen Tegel, jedenfalls dort wo seine Bombe viele Menschen
getötet, verstümmelt und traumatisiert hätte, gesetzt den Fall er hätte
überlebt, wäre gefangen und säße nun vor uns, und wir hätten zu richten…. Was
würden wir urteilen?
Madrid im November 2007. Vor dem
Nationalen Gerichtshof Spaniens stehen 28 Menschen, die beschuldigt werden, die
Attentate vom 11. März 2004 auf vier Madrider Vorortzüge verübt zu haben.
Damals starben 191 Menschen, 1800 andere wurden zum Teil schwerstverletzt. Das
Gericht erteilt 7 Freisprüche. In den anderen Fällen ergehen zum Teil bizarre
Urteile. Der Marokkaner Otman El Gnaoui erhält 42924 Jahre Haft, sein Landsmann
Jamal Zougam 42922 und der Spanier Suarez Trashorras 34715 Jahre.
Hilflose Urteile einer Justiz, die
sühnen will, was nicht zu sühnen ist.
Liebe Gemeinde, wo Recht auf
Vergeltung zielt, gerät es angesichts der möglichen Schwere menschlicher Schuld
in eine Sackgasse – aus der auch der bei solchen Taten immer wieder zu hörende
Ruf nach der Todesstrafe nicht herausführt, sondern nur tiefer hinein, insofern
die Institution des Rechtes sich selbst ins Unrecht setzt.
Angesichts dieses Dilemmas, dass wir
nicht wirklich sühnen und strafen können, was geschehen ist, mag so manch einer
nach einer höheren Gerichtsbarkeit Ausschau halten, nach einer Verantwortung,
die nicht von dieser Welt ist, wo sich auch all jene werden verantworten
müssen, die sich menschlicher Gerichtsbarkeit entzogen haben, zum Beispiel
dadurch, dass sie sich in ihrem Führerbunker selber das Leben nahmen.
Angesichs der Unmöglichkeit irdisch
Recht zu sprechen nach Gottes Gericht als Vergeltung rufen…
Wer so nach Gottes Gericht ruft, der
hat mit den Worten aus dem Buch des Propheten Micha eine ganze Menge zu lernen:
Erstens nämlich: Gottes Gericht ist
zuerst sein Sich-selbst-zur-Disposition-Stellen.
Zweitens: Gottes Güte aber ist immer
größer als unsere Anklage.
Drittens: Das lässt uns verstummen
und erkennen: Wir stehen mit leeren Händen vor Gott.
Und dürfen – viertens – dennoch leben
aus der Güte dessen, der es regnen lässt über Gute und Böse und die Sonne
scheinen lässt für Gerechte und Ungerechte.
II.
Ich will es erläutern:
Erstens: Gottes Gericht ist zuerst
sein Sich-selbst-zur-Disposition-Stellen.
Da macht das Prophetenwort eine
Gerichtsszene auf, die es in sich hat, ruft die Berge und die Grundfesten der
Erde, ruft oben und unten, das Höchste und das Tiefste zu Geschworenen an, weil
der HERR ins Gericht gehen will mit seinem Volk.
Was dann aber folgt, ist nicht die
Anklage des Volkes, sondern Gottes Frage nach seiner eigenen Schuld: „Was habe
ich dir getan, mein Volk, und womit habe ich dich beschwert? Das sage mir!“
Gott ist weder Richter noch Kläger,
sondern er nimmt die Rolle des Angeklagten an. Gott sitzt immer schon auf der
Anklagebank.
Sichtbar gewiss vor Pontius Pilatus:
„Was für eine Klage bringt ihr gegen diese Menschen vor?“ (Joh 18,29) – Öfter
aber in den Zimmern der Sterbenden, den Kellern der Gefolterten, oder in den
Herzen jener, die angesichts der ewigen Medienpräsenz von Schrecken und
Katastrophen noch nicht ganz abgestumpft sind. „Warum, Gott, lässt Du das zu?“
[Mehr noch: In Amerika hat einmal ein
Senator Anklage vor einem Gericht erhoben und Gott wegen Terrorismus verklagt –
dabei weiß er hin auf den verheerenden Hurrikan „Katrina“, der Oklahoma
überflutete.
Hat der Senator dies getan, um die
Absurdität der amerikanischen Gerichtsbarkeit zu demonstrieren, in der jeder
jeden wegen jedem verklagen kann – selbst den lieben Gott – so hat seine
Anklage doch einen tieferen Hintergrund. Den nämlich, dass wir Menschen
wahrlich auch Grund zu Klage haben.]
„Ja, Gott, es gibt Erfahrungen des
Lebens, die uns von dir entfernen. Ja, Gott, es gibt Leid, das mich an dir
verzweifeln lässt. Ja, Gott, Du bleibst mir Erklärungen schuldig: – Warum wird
die eine viel zu qualvoll Sterben müssen am Krebs in jungem Alter? – Und der
andere liegt alt und lebenssatt darnieder und darf nicht sterben, warum? Warum,
Gott, sind es immer dieselben, die auf die Schnauze fallen? Und andere, die
sich auf Kosten anderer ein gutes Leben gönnen? Warum… “
Wir könnten lange fortfahren…
Gott sitzt immer schon auf der
Anklagebank und wir urteilen täglich, die einen zu Recht und die anderen aus
Ignoranz.
Aber, ihr Lieben, und das ist für
mich das Überraschende an diesem Text: Gott selbst fordert uns dazu heraus,
provoziert uns, all unsere Klage und Anklage an ihn zu richten, stellt sich
selbst zur Disposition:
„Was habe ich dir getan, mein Volk,
und womit habe ich dich beschwert? Das sage mir!“
Wir haben um Gottes willen das Recht
zu klagen und zu schimpfen und anzuklagen und vorläufige Urteile zu fällen.
Aus der Seelsorge weiß ich, wie
hilfreich das ist, zu klagen. Es hat etwas Befreiendes.
III.
Es hat etwas Befreiendes. Die
unausgesprochene Klage bettet Gott ein in die Erinnerung an sein befreiendes
Handeln. Und lässt so das Zweite erkennen, nämlich, dass seine Güte immer schon
größer ist als unsere Klage.
Dabei ist es natürlich nicht
zufällig, dass Gott in diesem Gerichtsverfahren diese beiden Geschichten erwähnt:
Die Herausführung aus Ägypten und die Bileamsgeschichte.
Das war jene Geschichte, in der der
Moabiterkönig Balak Bileam gebeten hatte, das Volk Israel zu verfluchen. Die
Eselin aber lehrte Bileam eines Besseren.
Ich glaube, dass beide Geschichten
unser Gottesbild etwas zurechtrücken. Insofern sie erkennen lassen, dass die
Knechtschaft der Zustand ist, aus dem Gott herausführt; der Fluch das permanent
Drohende ist, das Gott abwendet.
Gott handelt dem Unheil entgegen.
Gott schafft inmitten einer Welt aus Sklaverei einen Raum der Freiheit. Gott
setzt inmitten einer Welt aus Fluch seinen Segen. Gottes Macht ist eine
Gegenmacht zu allem, was sonst machtvoll eingreift in unser Leben. Immer aber
gefährdet, angegangen und umkämpft.
Dass wir in dieser Welt aus
Sklaverei, Tod, Fluch und Chaos leben können, dass allein ist schon ein Wunder.
So jedenfalls sieht es die hebräische
Bibel von der ersten Seite an – wo Gott inmitten des Tohuwawohu einen kleinen
umgrenzten Bereich des Lebens schafft.
Viel Klage rührt her von einem
falschen Gottesbild. Und viel verpasstes Staunen daher, dass wir das Wunder des
Lebens nicht als solches begreifen. Dass wir eben nicht jeden morgen neu das
Geschenk des Lebens dankbar empfangen und jeden Tag aufs Neue begrüßen als Wunder
Gottes, jede Begegnung, jede Mahlzeit, jeden Gang und Schritt.
Sie sind ein Wunder!
IV.
Wem dies vor Augen steht, der wird
kleinlaut, verstummt – es folgt ja in unserem Text keine Gegenrede mehr – wird
kleinlaut, verstummt und erkennt – das ist das Dritte, dass er oder sie mit
leeren Händen vor Gott steht.
„Womit soll ich mich dem HERRN
nahen…“ Es ist eine archaische Frage, eine Frage, die uns eher nur am Rande
berührt. Dort aber um so heftiger.
Ich kenne es von Sterbenden, von
Menschen am Rande ihres Lebens, dass sie genau von dieser Frage umgetrieben
werden: „Womit soll ich mich dem HERRN nahen… Ich steh vor dir mit leeren
Händen Herr.“
Immer wieder neu bewegt mich jene
Szene aus Zuckmayers „Hauptmann von Köpenick“, in der der Schuster Willem Voigt
sich Rechenschaft gibt über sein Leben: Und da stehste vor deinem Herrgott und
der fragt dich ins Gesichte: „Wat haste jemacht, mit dein Leben?“ – „Und da
muss ick sagen – Fußmatte, muss ich sagen. Die hab ick jeflochten im Jefängnis,
und denn sind se alle druff rumjetrampelt, muss ick sagen.“
Was habe ich vorzuweisen, womit soll
ich mich Gott nahen?
Wenn es um das Gericht Gottes geht,
dann stehe ich immer auch selbst auf dem Spiel – Gottes Gericht ist nicht nur
eines für Diktatoren und Terroristen. „Womit soll ich mich dem HERREN nahen…“
Eine Frage, die uns nicht von Gott
vorgelegt wird, sondern die wir uns selber stellen. Man nennt es wohl Gewissen.
Eine Frage, die uns auf unser Leben
verweist:
V.
„Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was der HERR von dir fordert,
nämlich Gottes Wort halten, Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott.“
Jetzt müssen wir zum Schluss noch ein
wenig Hebräisch lernen.
„Gottes Wort halten“ hat Luther
übersetzt. „Mischpat“ ist das von Gott gesetzte Recht. Und es halten heißt
natürlich es auszuüben, zu tun. Nach Gottes Willen zu leben und zu handeln. Es
wird konkret in drei Dingen:
„Liebe
üben“. Häsed meint die Gemeinschaftstreue, die enge Bindung von Mann und
Frau oder Vater und Sohn. Das Wort hat dabei den Akzent des Geschenkes an die
Gemeinschaft. Also das, was ich über die Verpflichtung hinaustue. Die Kirche
lebt davon, dass viele Menschen in ihr Häsed üben, sich zum Wohl der
Gemeinschaft engagieren, mehr tun, als ihnen ihre Dienstanweisung abverlangt.
Häsed üben heißt nicht zu fragen, „Was kann die Gemeinschaft für mich tun?“,
sondern: „Was kann ich für die Gemeinschaft tun.“
„Demütig
sein vor deinem Gott“. „Demut“ ein schwieriges und viel missbrauchtes Wort.
Nach wie vor finde ich die beste Erläuterung die, die Heiner Geißler einmal in
einem Interview gegeben hat. „Demut ist die Wahrhaftigkeit gegen sich selbst.“
Die Wahrhaftigkeit gegen sich selbst.
Das heißt wachsam sein, einen Blick haben für sich und andere, nicht seinem
Schein hinterher leben. An anderer Stelle finde ich die Übersetzung: „Wachsam
leben mit deinem Gott“
Gottes Wort halten – Liebe üben –
Demütig sein. Die Reihung macht einen Spannungsbogen von Gott über die
Gemeinschaft hin zu sich selbst. Wer in diesem Spannungsbogen lebt, lebt
bereits in der Nähe Gottes. Denn das letzte Wort der Reihung ist: Dein Gott.
„Wachsam leben mit deinem Gott“ – Die
Frage, wie ich mich dem Herrn nahen soll, entscheidet sich an der Frage, wie
ich denn mein Leben lebe.
Wer sich an Gottes Recht hält, wer
nach den Bedürfnissen der Gemeinschaft blickt und wahrhaftig gegen sich selbst
lebt, der lebt schon in der Nähe Gottes.
Dem Ganzen aber ist noch eines Voraus
geschickt: „Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist…“
Mir fällt auf, dass die ganze
Auslegungstradition diesen Satz nur ethisch diskutiert: Das Gute wird
diskutiert und woher wir unsere Normen empfangen und wie Werte vermittelt
werden, für die es sich zu leben lohnt.
Nirgendwo fand ich aber den Gedanken,
der mir beim Lesen des hebräischen Textes am nächsten lag.
„Mensch“ nämlich heißt hebräisch
„Adam“. Da haben wir natürlich gleich die Schöpfungsgeschichte im Ohr. Und wo
taucht das Wort „gut“ in der hebräischen Bibel zum ersten Mal auf? Ebenfalls in
der Schöpfungsgeschichte. Denn Gott sah an, alles was er gemacht hatte, und
siehe, es war sehr gut.
In der Schöpfung haben wir bereits
gehört, was gut ist. Das Gute ist uns vorgegeben und die Basis unseres Lebens.
Gottes Güte geht unserem Tun und Lassen, unserem Vermögen und Versagen, unserem
Vollbringen und Beginnen voraus. Um Gottes willen ist es gut, Mensch, noch ehe
du zu atmen begonnen hast. Alles andere ist Demut, Liebe und Dankbarkeit.
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