Predigt zu Lukas 9,57-62

Liebe Gemeinde, damit wir heute Morgen unseren Blick erheben,
das Leben anders und neu sehen, weil wir sagen können:

„Meine Augen sehen stets auf den HERRN“

– und die Erfahrung des Psalmbeters unsere eigene Erfahrung wird: „denn er wird meinen Fuß aus dem Netze ziehen“
– darum wird uns heute das Evangelium des Sonntages „Okuli“ gepredigt: Lukas 9, 57-62.


Es ist ein Wort, das auf den flüchtigen Blick schockieren mag

– wer aber genauer hinschaut, wird darin „eine Befreiung aus den gottlosen Bindungen dieser Welt zu freiem, dankbarem Dienst an seinen Geschöpfen“ erkennen,

wie es die Barmer Theologische Erklärung gegen ein von Hitler dominiertes Deutsches Christentum formulierte.


Denn das gehört zusammen:

Der Ruf in die Nachfolge und die Erfahrung der Freiheit.

„Da verließen sie ihre Netze und folgten ihm nach“ (Mt 4,20).

„Meine Augen sehen stets auf den HERRN,

denn er wird meinen Fuß aus dem Netze ziehen.“

Ich lese uns den Predigttext: Lukas 9,57 bis 62


I.
Drei kurze Szenen wie in einem Episodenfilm.

Jim Jarmusch etwa hat uns einen solchen geschenkt: „Night on Earth“ ist ein Film, der die Geschichte von fünf Taxifahrerinnen und –fahrern aus einer Nacht erzählt: In Los Angeles, New York, Paris, Rom und Hesinki.

Zufällige Begegnungen von Menschen in einer Nacht, Leute die unterwegs sind zu einem Ziel.

„Als sie aber auf dem Wege waren…“, heißt es im Bibeltext. – Das Unterwegs-sein gehört zur Existenz des Menschen. Wir kommen immer schon von irgendwo her und wollen irgendwo hin, auch wenn wir manchmal nicht wissen, wohin.

In „Night on Earth“ suchen die Menschen jemanden, der sie mitnimmt von hier nach dort.

Ob das eine Metapher des Lebens ist: Jemanden suchen, der einen mitnimmt von hier nach dort; die Sehnsucht von uns Menschen beschreibt, unseren Weg nicht alleine gehen zu müssen?

Jim Jarmusch erzählt zufällige Begegnungen von Menschen in einer Nacht, erzählt von unterschiedlichen, teils völlig unvereinbaren Lebensgeschichten und hin und wieder taucht sie auf, die Frage, was das Leben lebenswert macht:

Ob sie nicht Karriere im Film machen wolle, fragt die Casting-Agentin Victoria die kaugummi-kauende, junge Corky, die sie in ihrem verbeulten Taxi zur schicken Villa in Beverly Hills fährt. „No. I’m a Taxidriver“ sagt Corky, und: „Ich will Automechanikerin werden.“

So wird das Taxi zu einem Freiraum, zum Ort der Unabhängigkeit von äußeren Normen, in Rom gar zu einem Beichtstuhl, in dem der Taxifahrer sich freiredet von seinen sexuellen Exzessen, während er notorisch Geschwindigkeiten überschreitet und gegen Einbahnstraßen fährt. Der arme Priester überlebt es nicht.

„Night on Earth“ zeigt uns in den nächtlichen Begegnungen den Menschen in seiner Suche nach dem, was sein Leben lebenswert macht – und in den Verstrickungen, die ihn das Eigentliche nicht sehen lassen.

So fährt denn auch der Taxifahrer in Paris eine blinde Frau als Passagierin, die Frau überrascht trotz ihrer Behinderung mit von uns Sehenden ungeahnten Fähigkeiten, erkennt die Herkunft des Taxifahrers präzise an der Stimme, und kontert auf seine Fragen über ihr Leben als Blinde äußerst scharfsinnig.

Als die Frau das Taxi verlässt, verursacht der sehende Taxifahrer einen Unfall. Als sie die Unfallgeräusche und wütende Stimmen hört, die sich gegenseitig der Blindheit bezichtigen, lächelt sie nur und entfernt sich zu Fuß langsam vom Unfallort.

Ja, wer wirklich Sehend ist im Leben, entscheidet sich nicht an der Sehkraft der Augen, sondern des Herzens.

„Meine Augen sehen stets auf den Herrn…“

Die Episoden, die Lukas erzählt, sie wollen unseren Blick verändern und ihn frei machen für das, was im Leben zählt. Unterwegs…

Schauen wir hin:

II.

„Und als sie auf dem Weg waren, sprach einer zu ihm: Ich will dir folgen, wohin du gehst.“ Und Jesus sprach zu ihm: „Die Füchse haben Gruben und die Vögel unter dem Himmel haben Nester; aber der Menschensohn hat nichts, wo er sein Haupt hinlege.“

„Ich denke, also bin ich“ – Die Subjektivität als Maß aller Dinge, als das einzig Verlässliche: die Selbstgewissheit - liebe Gemeinde, wohl kaum eine Zeit hat den Aufbrauch der Neuzeit so radikal gelebt wie die unsere.


„Ich bin das Maß aller Dinge“ – „Ich bin es, der sein Schicksal selbst in die Hand nimmt.“ – „Ich entscheide, was ich tue und lasse“. Wir leben in einer Zeit eines schier grenzenlosen Individualismus und höchster Subjektivität.

So grenzenlos, dass der einzelne, die einzelne längst schon damit überfordert ist, sich ständig neu zu definieren und zu erfinden. Und sich eben darum extrem von Stilen und Kulturen leiten lässt, weil mir diese Zugehörigkeit zum Milieu in der permanenten Verunsicherung Halt verspricht. Und wenn ich unsicher bin, was im Milieu gerade angesagt ist, dann hält der Zeitschriften-Markt das entsprechende Magazin wie „Schöner Wohnen“ oder „Cosmopolitan“ bereit, alles, was ich zu meiner Orientierung brauche.

In dieser Zeit hört sich die Initiative dessen, der zu Jesus kommt, ganz plausibel an: „Ich will dir folgen…“ „Ich will“.

Und Jesu Antwort verstört unser neuzeitliches Denken mehr, als wir auf den ersten Blick wahrnehmen: Denn sie stellt in Frage, ob ich wollen kann, was ich will.

Sind wir uns unseres Willens wirklich bewusst?
Kennen wir die Konsequenzen dessen, was wir wollen?
Sind wir überhaupt unserer eigener Herr, unsere eigene Frau?
Und kann ich „nachfolgen“ wollen, „glauben“ wollen?

…wenn nicht einmal der Menschensohn weiß, wo er sein Haupt hinlegen soll;
der Menschensohn selber nur ein Umherirrender ist, ein Obdachloser, der nicht weiß, wo er Schutz und Geborgenheit auf diesem Erdenrund finden soll?

Kann es in dieser Welt Sicherheit geben, Verlässlichkeit, wenn der Menschensohn in dieser Art uns unsere Selbstgewissheit unter den Füßen wegzieht?

Jesus verstört uns
und unseren immer nur auf uns und unser Wollen gerichteten Blick lässt er auf den Herrn sehen.

Auf ihn, der am Ende sagt: „Nicht wie ich will, sondern wie du willst“, der uns zu Beten lehrt: „Dein Wille geschehe.“

In der Begegnung mit Jesus widerfährt uns Befreiung aus dem Netz der Subjektivität, Selbstsucht und Ich-Bezogenheit zum Leben in Gottvertrauen.

Und ich atme auf, denn im tiefsten Inneren weiß ich ja, dass ich meiner selber nicht gewiss sein kann,
dass ich oft genug nicht weiß, was ich will,
dass ich jemanden brauche, der mich mitnimmt,
dass der Blick auf mich selbst nicht taugt zur Orientierung weder am Tag und erst Recht nicht in der Nacht.

III.

Und er sprach zu einem anderen: Folge mir nach! Der sprach aber: Herr, erlaube mir, dass ich zuvor hingehe und meinen Vater begrabe.

Aber Jesus sprach zu ihm: Lass die Toten ihre Toten begraben; du aber geh hin und verkündige das Reich Gottes.

Die zweite Begegnung nimmt in den Blick, was Norm und Sitte und Pflicht ist: Tote sind zu begraben – in den meisten Kulturen ein hoher Wert. Auch in der Tora.

Aber was ist das schon: Ein Wert, eine Norm, eine Pflicht an sich? Wenn sie nicht im jeweils konkreten Lebensbezug hinterfragt und zur Disposition gestellt wird?

Wir erleben es gerade in diesen Tagen, wie die Normvorstellung von „gehorsamen Kindern“ in den 50er und 60er Jahren und dies zumal im Kontext von Kirche zu einem massenhaften Schweigen, Wegsehen, Tolerieren und Ertragen von körperlichen Misshandlungen geführt hat: Übrigens nicht nur in katholischen Einrichtungen, sondern auch in Kinderheimen in evangelischer Trägerschaft.

Nein, Werte an sich sind wertlos.

Das sollte uns vor Augen stehen, wenn wir uns fragen, wie eine Werteorientierung heute erfolgen kann.

„Du aber geh hin und verkündige das Reich Gottes.“

Vielleicht liegt dort ein Schlüssel, wo sich unser Tun und Handeln, unser Reden und Denken ausrichten an Gottes Reich.

Und damit an der Verantwortung, die ich vielleicht vor Menschen, nicht aber vor dem lebendigen Gott verbergen kann.

In der Begegnung mit Jesus widerfährt uns Befreiung aus dem Netz von toten Normen und Werten und Pflichten zum Leben, das dem Leben dient.

Wer die Pflicht aber höher stellt, als die Liebe, der verfehlt das Leben.

IV.

Und ein anderer sprach: Herr, ich will dir nachfolgen, aber erlaube mir zuvor, dass ich Abschied nehme von denen, die in meinem Haus sind. Jesus aber sprach zu ihm: Wer seine Hand an den Plug legt und sieht zurück, der ist nicht geschickt für das Reich Gottes.

Die dritte Begegnung spricht mich auf die Zeit an.

Ich weiß, Zeit haben wir ja für gewöhnlich keine.

Aufschieberitis ist zur Volkskrankheit geworden.

Darum sparen wir ja auch nicht, sondern überlassen das unseren Kindern und Kindeskindern.

„Erlaube mir zuvor…“ Wie sehr sind wir gefangen in der Hektik des Alltages.
Wo immer dringlich drängende Dinge mich abhalten, das wirklich Wichtige zu tun und zu entscheiden.
Und ich es darum dem Augenblick vorenthalte und verschiebe auf morgen.

Und so hat die Nachfolge ja auch noch Zeit: Vielleicht wenn die Kinder aus dem Haus sind…

Und dann mag der Augenblick kommen, an dem ich merke, dass ich aus der Spur geraten bin wie ein Bauer, der beim Pflügen nicht vor sich, sondern hinter sich schaut, die Richtung nicht halten kann.

Um die Präsenz geht es im hier und jetzt und nicht in vergangenen Zeiten und Träumen.

In der Begegnung mit Jesus widerfährt uns Befreiung aus einem Leben, dass das Eigentliche im Gestern oder im Morgen sucht zum Leben im Augenblick.

V.

Liebe Gemeinde, kurze Szenen, die uns vor Augen führen, wie sehr wir uns auf der Suche nach dem, was dem Leben Sinn und Halt gibt, in Netzen verfangen haben, die uns vermeintlich Sicherheit versprechen, in Wahrheit aber unfrei machen:

Im Netz der Ichbezogenheit, des Individualismus, Subjektivismus und Egoismus.

Im Netz der Normen und Konventionen und Moral und Pflicht.

Und im Netz der Zeit, die wir nicht begreifen als den kostbaren und unverwechselbaren Augenblick, in dem es gilt zu leben.

Was macht das Leben aus?

Was ist wirklich wichtig?

Wohin will Jesus uns mitnehmen auf dem Weg des Lebens?

Wenn Sie mich fragen: Zur Liebe.

Die Liebe, die unseren festgelegten Blick weitet,
die uns aufsehen lässt auf den, der die Liebe ist
und unseren Fuß aus den Netzen zieht, damit auch wir sagen können:

„Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt – und sonst gar nichts“.

Von Kopf, wo unsere Augen sich ausrichten auf den Herrn – bis zum Fuß, den Gott aus den Verstrickungen des Alltags zieht, um ihn auf weiten Raum zu stellen.

Auf Liebe eingestellt: Denn in der Liebe entdecke ich mich als Gegenüber, als einer, der nur Ich sein kann in der Beziehung zu einem Du.

Auf Liebe eingestellt: Denn in der Liebe finde ich das Maß aller Norm und aller Werte, bin unkonventionell und im besten Sinne unmoralisch.

Auf Liebe eingestellt: Denn in der Liebe vertage ich nichts auf morgen, sondern lebe den Augenblick mit Haut und Haar, mit Kopf und Herz und Hand und Fuß.

Liebe Gemeinde, wir hätten unseren Predigttext falsch verstanden, wenn wir nun meinten, wir müssten in der Liebe leben. Ich kann das nicht machen. Ich kann es mir nur geschenkt sein lassen oder mich hineinrufen lassen.

Allerhöchstens am Wege stehen und winken:
Nimm mich mit, Herr Jesus, auf deinen Weg.
Lass mich das Leben finden, das Dir vertraut,
am Tag und in der Nacht,
im Tod und im Leben,
lass mich in deiner Liebe leben.

Amen.

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