Tu Deinen Mund auf für die Schwachen

 

Predigt zu Sprüche 31, 8f

im Gottesdienst

zur Verabschiedung von Ulrich Hamacher

als Geschäftsführer des Diakonischen Werkes Bonn und Region

am 01.Dezember 2023 in der Schlosskirche Bonn

„Die Bedingung meiner Teilnahme an der Einladung war, dass als große Kirchenfrage mit vorangestellt werde die kirchliche Praxis, der Satz, dass die Kirche als Kirche in Beziehung auf die Praxis eine große Schuld zu tilgen und ein Neues zu beginnen habe.“

Liebe Gemeinde, am 22. September 1848, vor 175 Jahren also, begann der Hamburger Pastor Johann Hinrich Wichern auf dem Wittenberger Kirchentag mit dieser Krisenbeschreibung seiner Kirche eine Stehgreifrede, deren Wirkung uns letztlich auch heute hier zusammenführt.

Sensibel für die gesellschaftliche Lage, die gekennzeichnet ist von der Verelendung der Massen und der Ignoranz der Eliten, konstatiert Wichern das Versagen kirchlicher Praxis.

Wie sah die aus?

Theologisch vertraute man auf die Taufe… und da in einer Zeit, in der den Menschen nicht gestattet war, keiner Religion anzugehören – die negative Religionsfreiheit kam erst mit der Weimarer Reichsverfassung 1919 – da unter diesen Voraussetzungen nahezu alle getauft waren, war ja alles in Ordnung. Eine gefühlte Stabilität, die es an einigen Stellen unserer kirchlichen Praxis auch heute noch gibt, wo doch längst der Verlust an Kirchenmitgliedern alarmieren muss.

Politisch war man mit Römer 13 der Obrigkeit gehorsam und verwarf mit ganz wenigen Ausnahmen jedes revolutionäre, jedes demokratische Denken, erst recht die Selbstorganisation der Arbeitenden, ihre Internationalisierung und überhörte die Signale, die zum letzten Gefecht riefen.

Gesellschaftlich glaubte man an Schöpfungsordnungen, die nicht nur die Rolle der Familie, die Rollen von Frauen und Männern als gottgewollt ausgaben, sondern auch den Stand, in den hinein man geboren war und in den man sich gefälligst zu fügen hätte. Einmal arm, immer arm… dagegen kämpfen wir noch heute.

Und nun tritt in Wittenberg dieser damals mit 40 Jahren noch recht junge Theologe aus Hamburg auf, der mit der kirchlichen Praxis, also mit dem, was seine Kirche wahrnehmbar und wirksam tut und lässt, gnadenlos abrechnet:

„… dass die Kirche als Kirche in Beziehung auf die Praxis eine große Schuld zu tilgen und ein Neues zu beginnen habe“.

Und dieses Neue sieht Wichern - und man muss sagen, nach fast 1900 Jahren Christentum überraschend - in der tätigen Liebe. Die Kirche habe zu bekennen, dass die Liebe zu ihr gehöre wie der Glaube. Ihm geht es um das Bekenntnis des Glaubens durch die Tat der rettenden Liebe.

Einer Liebe, von der er sagen kann, sie habe das scharfe Auge, alles zu sehen; insbesondere die Not der Menschen und ihre Bedürfnisse nach einem menschenwürdigen Leben.

Leviten-Lesen nennt man so etwas schon mal gerne; und die es tun, finden nicht immer Gefallen.

Aber Wicherns Rede kommt an und wirkt. Sie gilt als die Initialzündung der Diakonie in Deutschland.

Ein markantes Wort, das Wirkung zeigte; eine pointierte Rede, die die Kirche in Bewegung brachte!

 

II.

Wir sind heute hier in der Schloßkirche und verabschieden den langjährigen Geschäftsführer unseres Diakonischen Werkes in Bonn und Region.

Diakonie: Ausweis dafür, dass die Kirche verstanden hat: Sie hat die Tat der Liebe organisiert und institutionell gefasst.

Sie hat ihren Beitrag geleistet zur Ausbildung unserer Demokratie als Sozialstaat.

Und sie ist in diesem Sozialstaat ein wichtiger Akteur für die vielfältigen Notlagen der Menschen, die sich manchmal nur graduell von denen der Menschen damals unterscheiden; andere Notlagen sind verschwunden, neue hinzugekommen.

„Arme habt ihr allezeit bei euch“ – das Wort Jesu ist bittere Wirklichkeit, trotz Diakonie, Caritas und Sozialstaat.

Diakonie ist das handelnde Wort und die sprechende Tat der Christenmenschen in dieser Wirklichkeit.

 

III.

Wort und Tat; Tun und Reden…

Als Kirche des Wortes, als die wir uns Evangelische gerne verstehen, ist das Reden für uns immer auch eine Tat.

Freilich: Dass Sprache Wirklichkeit schafft, ist eine Binsenweisheit, die wir angesichts der Sprachspiele unserer Zeit sorgenvoll wahrnehmen können:

Die Narrative – Narrativ – vielleicht gerade eines der populärsten Wörter in den Beschreibungen gesellschaftlicher Phänomene – die Narrative der Rechten über die „Flüchtlingswelle“, den „Migrationsdruck“, die „Überlastung“… die verfangen. Und sie verschieben unsere Diskurse nach rechts. Dort wird immer mehr von dem, was wir nach Auschwitz für unsagbar hielten, sagbar. Und bald darauf liegen politische Optionen auf dem Tisch, die Wirklichkeiten verändern. Und es ginge immer noch schlimmer…

Die Rede von der „sozialen Hängematte“ bis hin zu den „Sozialschmarotzern“ diskreditiert weite Teile unserer Bevölkerung und weckt die Sehnsucht, es möge doch bitte noch mal jemand kommen, der die Menschen wieder zur Arbeit zwingt…

Sie kennen das alles. Sprache schafft Wirklichkeit.

 

IV.

Und gerade darum kommt die Diakonie nicht ohne das Wort aus. Denn wenn sie nicht sagt, was wirklich ist, lässt sie es zu, dass Menschen sagen: „Es ist ja nichts!“

Das Benennen der „Kinderarmut in Bonn“ erst machte offenbar, was in Bonn Wirklichkeit ist.

Das Benennen dessen, was ist, ist notwendige Praxis der Kirchen und ihrer Diakonie.

„Tu Deinen Mund auf für die Stummen und für die Sache aller, die verlassen sind. Tu Deinen Mund auf und richte in Gerechtigkeit und schaffe Recht dem Elenden und Armen!“

 

V.

Dieses Wort findet sich im 31. Kapitel des Sprüchebuches. Das Buch der Sprüche gehört zur Weisheitsliteratur Israels, die das Anliegen hat, Glauben lebenspraktisch zu durchdenken. Nicht nur als frommes Gefühl hinterm Brustbein, sondern im Blick auf unser Leben in der Welt, auf die handlungsleitende Ethik, auf Tun und Lassen: „Haltung“ nennt man so etwas wohl.

Verortet ist die Weisheitsliteratur häufig in der Unterweisung der Funktionseliten.

Unser Vers zum Beispiel ist als „Wort Lemuels, des Königs von Massa“ überliefert, als Wort, „das ihn seine Mutter lehrte“.

Die kluge Mutter hat ihm übrigens geraten, auf Bier und Wein zu verzichten, denn er könne beim „Trinken das Recht vergessen und die Sache der Elenden Leute verdrehen“.

Dass sie aber auch sagte, er soll Bier und Wein eher den betrübten Seelen geben, damit die ihr Elend vergessen, müsste zumindest den Widerspruch der Suchtberatung finden.

Aber nichtsdestotrotz will ich gerne dabei bleiben, dass die Sprüche Israels zurecht die Funktionseliten darauf verpflichten, ihren Mund aufzutun für die Stummen und für die Sache aller, die verlassen sind.

 

VI.

Wenn ich mich heute hier in der Schlosskirche umschaue, dann sehe ich eine Menge Menschen, die sich, weil sie – ich setzte das Wort bewusst: „Funktionselite“ sind, also Menschen, die an funktional wichtigen Positionen in Kirche, Gesellschaft und Politik wirken, - ich sehe eine Menge Menschen, die sich diesen biblischen Auftrag zu Herzen nehmen können und sollen:

Tu Deinen Mund auf für die Stummen – weil diese oft in Lebenslagen sind, wo die Organisation ihres Alltags so anspruchsvoll ist, dass sie gar nicht mehr dazu kommen, sich politisch zu informieren, geschweige denn, sich zu artikulieren.

Menschen, die die Sprache nie gelernt haben, auf die man in Politik und Verwaltung hört.

Menschen, denen immer noch die Zugänge zur Beteiligung an adäquaten politischen und gesellschaftlichen Diskursen fehlen.

Oder solche, die stumm bleiben, weil in diesen Diskursen wenig Interesse besteht, ihre Stimme zu hören: Wer mit Armutsbetroffenen die Verkehrswende diskutiert, wird mit Sicherheit nicht über wegfallende Parkplätze streiten. Wer mit Armutsbetroffenen über Klimaschutzmaßnahmen diskutiert, redet nicht über die Subvention des Elektroautos oder der Photovoltaikanlage, sondern kann sich vorrechnen lassen, wie viel CO2 einzusparen wäre, würde ihre alten Kühlschränke ersetzt.

 

VII.

Liebe Gemeinde, ich glaube, es ist in unserer gesellschaftlichen Situation so nötig, dass wir uns nicht in den elitären Blasen einnisten, sondern gerade den anderen Gehör schenken, dass ihre Lebenslagen, die oft genug Notlagen sind, zur Sprache kommen.

Insofern wäre die kirchliche Praxis der Diakonie nicht gut beraten, sich mit dem Pflasterkleben zu begnügen, sondern muss immer wieder auch sagen, was Sache ist: Tu Deinen Mund auf für die Schwachen!

Und schaffe mit Deinem Wort die Hoffnung auf eine neue Wirklichkeit.

Ach, noch ein letzter Satz dazu, vielleicht ein bisschen polemisch: Sollte es um Weihnachten herum von Ulf Poschart und anderen wieder zu hören sein, die Kirche sei in ihren Predigten zu politisch, dann könnte es sein, dass wir getan haben, wozu wir auch berufen sind: „Tu Deinen Mund auf für die Stummen und für die Sache aller, die verlassen sind. Tu Deinen Mund auf und richte in Gerechtigkeit und schaffe Recht dem Elenden und Armen!“

Amen.

 

 

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