Hephata - Tu dich auf!
Predigt zu Markus
7,31-37
zum Festgottesdienst anlässlich der Feier
zu 500 Jahre Reformation
in der Johanneskirche Troisdorf
„Der Glaube kommt aus dem Hören“ haben
wir eben gehört. „Der Glaube kommt aus der Predigt“ hat Martin Luther den Vers aus
Römer 10,17 übersetzt. „Der Glaube kommt aus dem Hörensagen“, würde ich übersetzen.
Predigt als Sprech- und Hörereignis, darum geht es.
500 Jahre Reformation: in der Fülle
dessen, was da heute so alles gesagt werden wird, liebe Gemeinde, will ich uns begrenzen
aufs Predigthören und zurückführen auf die reformatorische Erkenntnis: Der Glaube
kommt aus dem Hörensagen.
Ich will es
wagen, heute eine Predigt zu halten, die eine Erzählung ist über einen, der
eine Predigt hörte. Der, der dort predigte, - und deshalb wage ich es gerne, -
ist unumstritten ein großer Prediger gewesen: Martin Luther.
Also wenn
ihnen das, was ich erzähle nicht gefällt, dann haben sie zum Trost immer noch
die Predigt Luthers. Nun aber will ich von meinem Predigthörer erzählen:
Als Johann
Stolz an diesem Sonntag aus dem Bett aufstand, da muss es mit dem falschen Fuß
gewesen sein. Jedenfalls murrte und knurrte der Alte vom ersten Sonnenstrahl
an, dass es seiner Gemahlin gar zu unerträglich wurde. "Geh, scher dich
zum Teufel oder geh in Kirch´, Alter, aber lass mir mein´ Ruh´!" herrschte
sie ihn an.
Sie nahm
die Milch vom Feuer und goss sie ihrem Gatten in die Schüssel. "Zu
heiß!" murrte der, als er den getunkten Bissen Brot zwischen die zahnlosen
Kiefer schob. "Dann wart halt!" entgegnete die Alte. "Dann
zieht´s Rahm!" knurrte der Alte zurück. "Ich mag keinen Rahm auf der
Milch!"
Barsch
schob er die Schüssel zurück, stand auf, nahm den Hut vom Haken und ging zur
Stubentür: "Ist wenigstens der Bugenhagen wieder da?" "Ist dir
der Doktor Luther nicht recht?" "Ich mein halt nur", sagte der
Alte und ging.
Der 8.
September 1538 war ein freundlicher Tag am Ende eines schönen und ertragreichen
Sommers. Johann Stolz nahm den Weg zur Schlosskirche auf einigen Umwegen. Er
wollte möglichst wenigen Leuten begegnen. An Tagen wie diesen war es gut,
niemandem zu nahe zu treten.
Johann
Stolz war kein regelmäßiger Kirchgänger. Seit dieser Luther seine neuen
Gedanken verbreitete, ging in Wittenberg niemand mehr zur Kirche, weil er
musste. Freilich gab es viele fromme und gescheite Leute, die morgens in die
Schlosskirche eilten und mittags in die Stadtkirche. Vor allem Studenten
bekamen von den Predigten nicht genug.
Für Johann
Stolz war das oft etwas zu hoch. Früher verstand er die Messe nicht, weil sie
auf Latein war. Heute war sie deutsch und er verstand sie immer noch nicht.
An den Predigern aber hatte
er seinen Gefallen. Wie unterschiedlich sie doch waren: Streng der Bodenstein von
Karlstadt, milde und bedächtig, sehr ernst auch, der
Bugenhagen, herbe und donnernd oft der Luther, wenn er nicht, was in letzter
Zeit immer häufiger vorkam, so auch jüngst im Juli, krank auf seinem Bett zu Hause predigte.
Johann
Stolz nahm den Hut ab, als er die Schlosskirche betrat. Man sang bereits das
"Wir glauben all an einen Gott". Dem Alten fehlte dazu nicht nur der
Text, sondern auch der Atem. Schweigend ging er nach vorne. Er suchte sich eine
Säule, an die er sich lehnen konnte. Sein Blick ging durch die Kirche. Sie war
gut besucht.
Unter der
Kanzel nahmen gerade Rörer und seine Studenten Platz. Sie schrieben in einem
ausgeklügelten System die Predigten Luthers mit: Der erste den ersten Satz, der
zweite den zweiten und so fort, zwischendurch ein Kürzel auf Latein, das ging
schneller.
Überhaupt
drängten sich die Scholaren möglichst nahe an die Kanzel heran, dabei hatten
sie doch die besten Ohren.
Auf einer
Kiste saß eine alte Frau. Sitzen, das war das Recht der Alten.
Hinter
einer Säule hervor kam ein Pärchen und drängte nach vorne. Mit der Rechten
glättete sich der Knecht das blonde Haar, während die Magd die letzten Knöpfe
ihrer Bluse schloss - das war das Privileg der Jungen.
Luther
bestieg die hölzerne Kanzel. Er war schwer geworden und feist.
"Sanftlebendes Fleisch zu Wittenberg" hatte ihn Müntzer einst
beschimpft. Was dem wohl heute zu Luthers Anblick einfallen würde?
Die Alten
legten die Hände an die Ohren.
"Ruhig!"
herrschte die Alte von der Kiste die Kinder an, die Fangen spielten. Sie warf
ihnen furchterregende Blicke zu. Die Kleinen hielten kurz inne, schlichen sich
davon, um am anderen Ende in der Kirche ihr Spiel von neuem zu beginnen:
"Fang mich!" - "Hab dich!"
"Evangelium für den 12. Sonntag
nach Trinitatis bei Markus im siebten Kapitel: Und da Jesus wieder fortging aus
der Gegend von Tyrus, kam er durch Sidon an das Galiläische Meer, mitten in das
Gebiet der Zehn Städte", fing Luther an. Jetzt spitzte auch Stolz die Ohren. Entweder
war Luthers Stimme schwächer geworden oder seine Ohren, jedenfalls musste er
näher herantreten. "Und sie brachten
zu ihm einen, der taub und stumm war, und sie baten ihn, dass er die Hand auf
ihn legte. Und er nahm ihn von dem Volk besonders und legte ihm die Finger in
die Ohren und berührte mit Speichel seine Zunge und sah auf gen Himmel, seufzte
und sprach zu ihm: Hephata! das ist: Tu dich auf! Und alsbald taten sich seine
Ohren auf, und das Band seiner Zunge ward los, und er redete recht. Und er
gebot ihnen, sie sollten´s niemand sagen. Je mehr er´s aber verbot, desto mehr
breiteten sie es aus. Und sie wunderten sich über alle Maßen und sprachen: Er
hat alles wohl gemacht; die Tauben macht er hören und Sprachlose reden."
Luther
schloss die Bibel, blickte in die Runde, atmete schwer und tief und hob dann
an: "Dies Evangelium stellt uns ein
Wunder vor Augen, das Jesus an einem Menschen tat, der taub und stumm gewesen
war; diese beiden Plagen sind ja immer beieinander. Wie er alle anderen Wunder
tat, so tat er auch dieses indem er zum wahren Glauben ermahnt und vom
Unglauben wegruft.
Es ist ein geringes Wunder, wenn
man´s vergleicht mit dem, was er täglich tut. Täglich werden Kinder geboren,
die zuvor weder Gehör noch Sprache haben, nicht einmal eine Seele. Aber binnen
Jahresfrist wird ihnen alles gegeben: Seele und Leib, Sprache, Gehör und so
fort.
Aber dies Wunder ist so gewöhnlich, dass
man´s nicht weiter achtet. Da ist fast niemand in der Welt, der Gott dafür
dankte, dass er eine feine Zunge und Ohren hat. Wo sind die Leute, die fünfzig
Jahre lang ein feines Sehen haben und Gott von Herzen dafür danken? Wie viele
sind´s, die sich des großen Wunders freuen?
Dass Christus diesen geheilt hat,
darüber wundern sie sich. Aber dass sie selber hören und reden, das wundert sie
nicht..."
"Stimmt!"
dachte Stolz. "Bin nahe sechzig und seh´ mit bloßem Aug´ noch die Läus im
Haar der Alten und red´ auch ohne Zähn´ noch, dass sie´s Fürchten kriegt, und
hör´ mehr recht als schlecht. Es könnt ja auch anders sein. Ist schon was dran
an dem, was er sagt."
"...uns anreizen zur
Dankbarkeit. Aber es wird nichts draus, es ist uns wertlos geworden, weil man´s
immer hat...",
war derweil Luthers Predigt fortgeschritten. Stolz ärgerte sich, dass er den
Faden verloren hatte. - "Alle
Kreaturen rufen uns an, dass wir Gott dankbar sein sollen, wie auch am Ende
dieses Evangeliums geschrieben ist: `Er hat alles wohl gemacht´. Wir haben
edler und köstlicher Gehör und Sprache als dieser hier im Evangelium, denn wir
haben´s von der Mutter. Da soll man fröhlich sein und sprechen: `Ich danke dir,
Gott, dass du mir so feine Ohren und Sprache gegeben hast...´"
"Ach
ja, die Mutter...", dachte Stolz. Hat ihn das "Vater unser"
beten gelehrt und das Fluchen auch. Da war er aber schon größer. "Eia,
eia" wird sie ihm wohl gesungen haben zu Anfang, wenn er seine Stimme
stärkte im Schreien. Wie lange eine Mutter ein Kind wohl auf den Armen wiegen
muss, bis es das Vertrauen ins Leben lernt. Und wie es wohl kommt, dass man´s
irgendwann "Glauben" nennt? Ist´s Muttersprache?
Er musste
sich disziplinieren.
"...dass man singen und mit
Freuden danken soll: Er hat alles wohl gemacht. So sollen auch die Ohren Gott
und dem Nächsten dienen mit Freuden. Wer sie so gebrauchte, der wäre froh in
Gott.
Aber der Teufel hindert das alles und
kehrt´s um ins Gegenteil, so dass wir Gott lästern, dem Nächsten schaden und
uns selber verfluchen. Darum spricht er: `Hephata´, das heißt: Tu dich einmal
auf!
Wenn wir Augen und Ohren hätten, so
würde das Korn uns anreden: `Sei fröhlich in Gott, iss und trink und gebrauche
mich und diene deinem Nächsten! Ich will dir schon die Speicher füllen!´ Und
wenn ich nicht taub wäre, so müsste ich hören, wie die Kühe sprechen bei ihrem
Ausgang und Eingang: `Freuet euch, wir bringen Butter und Käs´, esset, trinket und
gebet anderen auch davon!´ Ebenso gackern uns die Hennen: `Wir wollen euch Eier
legen!´ Und die Vögel singen uns: `Seid fröhlich, wir wollen Junge hecken!´
Ebenso höre ich auch die Säue mit Freuden grunzen, denn sie geben uns Braten
und Wurst. So sprechen alle Kreaturen mit uns. Darum sollten alle so denken:
`Ich will das genießen, was Gott mir geschenkt hat, und anderen auch davon
geben.´
Aber der Teufel lässt das nicht zu,
sonst würden die Leute hören. Sie sprechen aber nur: `Immer nur mehr
her!´"
"Jetzt
geht´s zur Sache. Da nimmt Luther kein Blatt vor den Mund. Sicher liest er uns
jetzt die Leviten." Und das ist für Leute wie Stolz Grund genug, sich ihre
eigenen Gedanken zu machen. "Alle Kreatur redet zu uns" - Das hatte
er noch nie gehört. So hatte er die Welt noch nie gesehen. Also auch er taub?
Taub für die Schöpfung und alle Kreatur? Taub und blind für das alltäglich
Wunder, das uns geschenkt ist, dass wir es teilen mit dem Menschen neben uns?
Stolz
blickte sich um. Was wohl die hier versammelte Schöpfung zu erzählen hatte?
Er sah die
Alte auf ihrem Sitz. Sie war eingedöst. "Komm, Alte, sprich zu mir!"
Sie
schnaufte tief, hob kurz das faltige Gesicht, um sogleich wieder in sich
zusammenzusinken. "Gönn ihn dir, Alte", dachte Stolz, "gönn ihn dir,
den Schlaf. Müde bist du und abgearbeitet. Gönn dir deinen Lebensabend. Und
genieße, was dir zu genießen bleibt. - Wir Alten haben Zeit - mach was draus!
Wir Alten haben ein Recht auf Ruhe, auch in unserer Seele. Ach komm, Johann,
lass das Keifen sein!"
"So geht es heute zu, um andern
zu schaden. Damit hängt man Gift und Pestilenz an Gottes Gaben. [Es ist jetzt
großes Säusterben, und wär nicht zu verwundern, wenn unser Herr Gott sie alle
sterben und nichts geraten ließe. Aber vor seiner unergründlichen Güte kommt´s
nicht zu dem, was dein Sorgen und Geiz verdient]", hörte er den Prediger wie ferne
Geschütze von der Kanzel donnern.
Seine Augen
suchten die Kinder. Die liefen immer noch hinten herum. Ein Kleiner knöpfte
sich gerade die Hose zu.
"Kinder,
ach hätt´ ich´s je begriffen, wie groß die Gabe ist, die Gott uns in den
Kindern schenkt. So klein und doch schon ganze Menschen. Nicht ein Ding, das
mir gehört. Anvertraute Wesen, das ich´s hege und pflege mit der ganzen
Schöpfung und helfe, selbst zu werden. Hab´s nicht kapiert. Ob´s wohl noch
einmal Frieden wird mit meinem Sohn, dem einzigen, der blieb?"
"Aber das wollt dies Evangelium
gerne tun, dass es durch diesen einen Menschen hier uns alle zum Hören und
Reden brächte",
drang des Predigers Stimme an sein Ohr.
Hören und
Reden, darauf wär´s angekommen. Aber Stolz hatte ja nie gehört, was sein Kind
sagte. Oberflächlich war er in den Jahren gewesen, als sein Sohn es hätte
lernen müssen, sich mitzuteilen. Aber der Vater hatte höchstens eine Frage,
selten aber auch ein Ohr, die Antwort zu hören. Verschlossen hat es ihn
gemacht, den Sohn. Leere Phantasien waren ihm die Erzählungen des Kleinen,
unvernünftig. So hatte er ihm die Kindheit ausgetrieben. Der Sohn hat´s nie
verziehen. "Hören und Reden - ob wir es noch einmal probieren
könnten?"
Und dann
das Paar. Zusammengeschmiegt standen sie unter Luthers Kanzel. Ihren Kopf hatte
sie auf seine Schulter gelegt. Seinen Arm hatte er um ihre Taille gelegt.
"Sich anlehnen und halten. Nicht allein sein. Ach ja, meine gute Marte,
das beste Bier braut sie in ganz Wittenberg. Das ist wahrlich eine Gabe. Aber
das kann doch nicht alles sein! Ich alter Esel komm noch auf Gedanken! Aber
warum nicht!
Versorgt zu
werden ist schön. Geliebt zu werden ist besser. Zu lieben aber ist das wahre
Glück! Ich Blindfuchs hab´ die schönste Gabe neben mir und seh´ sie nicht und
hör´ nicht und red´ nur Sauerkram."
"Hämmel, Kühe, auch die Bäume,
wenn sie blühen, sprechen: Hephata... alle Kreaturen schreien dich an, darum tu
dich auf!"
"Sind
also selbst die Hämmel und Kühe schlauer als ein Wittenberger Bauer?" Tu
dich auf, Johann Stolz! Tu dich auf, dass du endlich siehst, wie voll Wunder
die Welt ist! Tu dich auf, Johann Stolz, dass du endlich hörst, wie reich
beschenkt du bist! Tu dich auf, Johann Stolz, dass du teilst, was dir gegeben
ist!
Tu dich
auf, Johann Stolz, damit ich von dir erzählen kann, auch wenn du nur erfunden
bist - aber vielleicht musste ich ja einen solchen Menschen erfinden, der den
einfachen Menschen, der mir und dir ähnlich ist, und sich trotzdem auftut,
damit wir spüren, dass das Wunder auch uns umgibt.
Tu dich
auf, Johann Stolz, Erfundener, damit du in uns die Phantasie weckst, dass das
Wunder der Predigt geschieht, dass Gottes Wort geschieht. "Hephata!"
heißt das Wort schon vor Luther, bei Luther, nach Luther und heute hier in der
Johanneskirche: Tu dich auf!
Mach dich
auf! Spitz die Ohren! Reib dir die Augen und erzähl die Freude weiter! Bleib
nicht in Dir verschlossen, tu dich auf, du Stolzer, damit du ein Beschenkter
wirst! Tu dich auf! Du bist ein Wunder! Und der andre, die andre - ist´s auch!
Und rund um Dich herum ist eine wunderbare Schöpfung.
Was dem
einen Taubstummen damals geschah, heute ist es dir gesagt: Hephata - Tu dich
auf!
Reformation
war ein Aufmachen und bleibt ein Aufmachen. Nicht ein billiger Aufmacher,
sondern ein Sich-öffnen für Gottes Wort. Wo das geschieht, dass Menschen Ohren,
Augen und Herzen öffnen, da ändern sich Menschen, da ändert sich die Kirche, da
ändert sich die Welt.
Wie war
doch die Summe zum Schluss der übrigens nicht erfundenen Lutherpredigt: "Darum ist dies kleine Wunder dahin
ausgerichtet, dass es weit ausgebreitet werden soll, damit doch alle die
rechten Zungen kriegen sollten. Darum bessre sich, wer da will. Du wirst ja
doch nicht erlangen, was du mit einem Geizen suchst. Du aber, der du offne
Augen hast, bleib bei deiner Freude und lass die Welt das Herzeleid haben. Du
wirst genug haben!"
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