Therapie gegen Glaubens-Alzheimer
Predigt zu Matthäus
9,9-13
Liebe Gemeinde,
in diesem Gottesdienst verabschieden
wir einen langgedienten Presbyter aus seinem Amt. Im Vorhinein haben Jürgen
Möller und ich ein Pressegespräche geführt, in dem natürlich am Anfang die
Frage stand: Wie sind Sie eigentlich dazu gekommen. Und die Antwort: „Ich wurde
angesprochen…“
So fängt es wohl meist an, dass einer
einen anspricht. „Folge mir!“ sagt Jesus zum Zöllner Matthäus am Tor. „Und er
stand auf und folgte ihm!“
Diese Geschichte von dem Ruf Jesu in
die Nachfolge ist der für heute vorgeschlagene Predigttext. Das passt
natürlich.
Ich möchte es uns an der Stelle aber
nicht zu einfach machen. Denn die Geschichte, die uns Matthäus erzählt, richtet
den Blick darauf, wen Jesus da eigentlich beruft und was daran deutlich und
erfahrbar wird von dem Gott, an den wir glauben. In älteren Bibeln trägt die
Geschichte gerne die Überschrift: Das Sündermahl
Hören Sie selbst: Matthäus 9,9-13
Und als Jesus von dort wegging, sah er einen Menschen am Zoll sitzen, der hieß Matthäus; und er sprach zu ihm: Folge mir! Und er stand auf und folgte ihm. Und es begab sich, als er zu Tisch saß im Hause, siehe, da kamen viele Zöllner und Sünder und saßen zu Tisch mit Jesus und seinen Jüngern. Als das die Pharisäer sahen, sprachen sie zu seinen Jüngern: Warum isst euer Meister mit den Zöllnern und Sündern?
Als das Jesus hörte, sprach er: Die Starken bedürfen des Arztes nicht, sondern die Kranken. Geht aber hin und lernt, was das heißt (Hosea 6,6): »Ich habe Wohlgefallen an Barmherzigkeit und nicht am Opfer.« Ich bin gekommen, die Sünder zu rufen und nicht die Gerechten.
Barmherziger Gott,
öffne uns die Herzen für deine
Barmherzigkeit
auf das wir gesund werden.
Hilf beim Reden und beim Hören und in
beidem:
Hilf beim Predigen.
Amen.
Liebe Gemeinde, wen ruft er?
„Ich bin gekommen, die Sünder zu
rufen und nicht die Gerechten“
Reden wir Klartext, von mir aus mit
Konstantin Wecker:
„Schafft Huren, Diebe, Ketzer her
und macht das Land chaotisch,
dann wird es wieder menschlicher
und nicht mehr so despotisch…“
Subversiv ist sie, unsere Erzählung,
durch und durch anstößig und ärgerlich für moralische Menschen und bürgerliche
Ohren und allzu fromme Christen und solche, die zu PEGIDA gehen, um das
Abendland zu verteidigen.
Subversiv, anstößig, irgendwie
verkehrt - wir haben es nur – vermute ich – angesichts der weichgespülten
Kindergottesdiensterzählungen… nein, ich glaube mehr noch angesichts der
fehlenden Anwesenheit von Huren, Dieben und Ketzern in unseren Gottesdiensten
vergessen.
Vergessen: Dass sie an den Tisch
gehören, die Huren, Diebe, Ketzer…
Apropos „vergessen“ – „Das sollt ihr,
Jesu Jünger, nie vergessen, wir sind die wir von einem Brote essen, aus einem
Kelche trinken alle Glieder, Schwestern und Brüder…“
Glaubens-Alzheimer bedroht uns mit
Vergesslichkeit.
Da sind wir nicht viel anders als die
Kurie in Rom, bei der Papst Franziskus, der sich und am liebsten der ganze
Kirche Bescheidenheit und Barmherzigkeit verordnet, um gesund zu werden, bei
der der Papst eben jene Krankheit diagnostizierte: Glaubens-Alzheimer.
Liebe Gemeinde, wo wir vom Vergessen
bedroht sind, ist wohl die Erinnerung nötig an jene Geschichte vom
„Sündergastmahl“, die uns einen Spiegel vorhält, in dem wir uns in unserer
Vergesslichkeit erkennen.
I.
„Die guten ins Töpfchen, die
schlechten ins Kröpfchen“ – das Märchen, als könne man Gut von Böse leicht
unterscheiden und die Welt und die Menschen in Schubladen sortieren, jenes
Märchen ist leider doch so viel präsenter in unseren Hirnen und Herzen als die
Geschichte von Jesu Gastmahl mit den Zöllnern und Sündern.
Vielleicht hätte man uns als Kinder
weniger mit Grimms moralischen Märchen und mehr mit Jesu unmoralischen
Geschichten füttern sollen. Denn was hier geschieht, gehört allemal ins
Langzeitgedächtnis. Nicht nur in deines und meines, sondern auch in das von
Kirche und Welt.
Aber vielleicht will man dort ja
diese Geschichte gar nicht mehr hören, weil sie schon kratzt an Sitte und
Moral.
Denn sie erzählt von Jesus, der sich
keinen Deut kümmerte um ebene jene Sitte und Moral seiner Zeit. Sonst hätte er
als frommer Mensch sich nicht an einen Tisch setzen dürfen mit den „Zöllnern und
Sündern.“
Zöllner – eine kurze historische
Erinnerung: Während die staatliche Kopf- und Grundsteuer durch Beamte erhoben
wurde, wurden die Grenz- und Marktzölle an den Meistbietenden verpachtet. Nur
diese Pachtsumme galt es herauszuwirtschaften und abzuführen; wer mehr einnahm,
konnte es für sich behalten. Wegen der entsprechenden Willkür und Habsucht
galten die Zolleinnehmer als verhasst und verachtet; die bürgerlichen
Ehrenrechte wurden ihnen ebenso versagt wie die Aufnahme in die Pharisäische
Gemeinschaft.
Also nichts da mit Tischgemeinschaft.
Darum sprengt Jesu Tischgemeinschaft
die engen Grenzen von Moral und Konvention. Da dürfen – sehr zum Ärger der
Gerechten – auch Sünder am Tisch des HERRN sitzen. Manche von denen sind
vielleicht Kriminelle. Terroristen gar. Sicher korrupte Beamte und
Führungskräfte großer Unternehmen, die sich nach Herzenslust bereichert haben
oder anderen zu ihren Gunsten Vorteile gewährt haben. Da dürfen Aussätzige
ebenso teilnehmen wie Huren, Diebe, Ketzer…
Jesus sortiert nicht nach rein und
unrein, nach recht und ungerecht, nach gut und böse, nach moralisch und
unmoralisch.
So wir es denn vergessen haben,
entdecken wir uns im Spiegel dieser Geschichte wieder an der Seite der
Pharisäer und Schriftgelehrten.
Ehe wir über diese den Kübel der
Verleumdung ausschütten, ihr Lieben, macht zart: Wie würden wir denn reagieren,
hörten wir, dass Jesus sich von Uli Hoeneß zu einer Party hätte einladen
lassen…
Uns, die wir uns mühen gerecht und
fromm zu leben, gilt diese Geschichte, und sie wirbt um unser Einverständnis
mit den Worten Jesu zum Schluss: „Die Starken bedürfen des Arztes nicht,
sondern die Kranken. Geht aber hin und lernt, was das heißt: `Ich habe
Wohlgefallen an Barmherzigkeit und nicht am Opfer´. Ich bin gekommen, die
Sünder zu rufen und nicht die Gerechten…“
III.
Würden wir zu dieser
Gesundheitsreform nicht gern unsere Zustimmung geben, auch wenn sie uns Opfer
abverlangt – Barmherzigkeit als Opfer, Barmherzigkeit als Preisgabe von
gesundem Rechtsempfinden, von Normen, die wir für gültig hielten,
Barmherzigkeit als Opfer und die Erkenntnis, dass „mein Herr Jesus“ eben nicht allein „mein treuer Heiland“ ist, sondern ebenso und noch viel mehr Heiland
der anderen, der Huren, Diebe, Ketzer…
Würden wir dieser Gesundheitsreform
nicht gerne zustimmen, wenn wir denn bei einem zweiten Blick in den Spiegel
unserer Geschichte uns nicht nur auf Seite der Pharisäer und Schriftgelehrten –
das war der erste Blick - , sondern auch auf der Seite der Zöllner und Sünder
entdeckten.
Als Menschen, die sehr wohl auf ihr
eigenes Wohl bedacht sind und sich dafür bereichern am Gut des Nächsten. Und
wenn es nicht sitzend ist am Zoll der Stadt so doch am Tor der Zukunft, raubend
den zukünftigen Generationen, was sie zum Leben brauchen. Als Diebe und Räuber
von Lebensressourcen entlarvt sind wir: Nehmt die Klimagutachten. Nehmt das
Europäische Nord-Süd-Gefälle. Nehmt die Vernachlässigung der Infrastruktur in
den Kommunen. … Wir sitzen am Tor der Zukunft und halten die Hände offen.
Da nun kommt Jesus und ruft uns in
die Nachfolge… Erwartet von uns, dass sich was ändert im Leben. Dass wir
aufstehen, unsere Positionen, unsere Standpunkte oder unsere Orte der Lethargie
und Bequemlichkeit verlassen, den Hintern hochkriegen und auf seinen Wegen wandeln.
„Und er stand auf und folgte ihm…“
Das Wort „aufstehen“ wird auch für
„Auferstehung gebraucht“.
Vielleicht eine Wortspielerei, die
erahnen lässt, dass es in der Nachfolge um ein neues Leben geht, ein Leben mit
einer unvergleichbaren Qualität.
Wohl dem Kranken, der diese Heilung
hat erfahren dürfen, der den Weg zum Leben gefunden hat, das Fest des Lebens
feiert und viele sind dabei…
IV.
Und viele sind dabei… Wahrscheinlich
entdecken wir uns im Spiegel der Geschichte – ein dritter Blick - auch bei jenen
wieder, die einfach nur dabei sind. Ihre eigenen Geschichten haben, wie sie
dazu gekommen sind. Oftmals leisere Geschichten, weniger radikal, irgendwie
dazu gekommen. Vielfach immer noch zögernd, ob ich denn den Schritt wagen soll
und kann in die Nachfolge und was dabei auf dem Spiel steht. Das Bekenntnis
scheuend, wenn man uns denn kritisch anspricht auf Christus und seine Kirche,
weil wir denn selbst nicht genau wissen, was recht ist. Und es selbst nicht
wagen einzutreten für die Kranken und die, auf die man mit den Fingern zeigt.
Und dennoch eingeladen, mit ihm zu
Tische zu sitzen. Staunend über den Meister, dessen Erbarmen so viel weiter
geht als unser Vermögen, und von dem wir sie lernen, die Achtung vor den
Menschen.
Was qualifiziert uns als Christenmenschen
gleich welcher Konfession mehr als diese Bestimmung, Eingeladene zu sein am
Tisch des HERRN.
Darum: „Schafft Huren, Diebe, Ketzer
her…“ und: „– „Das sollt ihr, Jesu Jünger, nie vergessen, wir sind die wir von
einem Brote essen, aus einem Kelche trinken alle Glieder, Schwestern und
Brüder…“
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