Es ist an der Zeit...

Predigt zu Prediger 8,6-9 zur Erinnerung an den 1. Weltkrieg


„Weit in der Champagne im Mittsommergrün
Dort wo zwischen Grabkreuzen Mohnblumen blüh’n,
da flüstern die Gräser und wiegen sich leicht
im Wind der sanft über das Gräberfeld streicht.
Auf deinem Kreuz finde ich, toter Soldat,
Deinen Namen nicht, nur Ziffern und jemand hat
Die Zahl neunzehnhundertundsechzehn gemalt,
und Du warst nicht einmal neunzehn Jahre alt.“

Fand den Text des Hannes Wader, zurück aus meinem Urlaub, in meinem Fach. Kannte ihn nicht. Weiß nicht wer’s war, der ihn mir zukommen ließ.

Les den Text. Bilder entstehen.

Bilder jener endlosen Felder mit weißen Kreuzen drauf. Eine Reihe wie die andere. Wohin auch das Auge blicket… Dazwischen saftiges Grün. Blumen wiegen sich im Wind zwischen den Kreuzen.

10 Millionen sollen es gewesen sein, die ihr Leben ließen auf den Schlachtfeldern. Nicht alle bekamen ein Grab, bekamen ein Kreuz.

10 Millionen Männer, jünger als ich, damals.
Wären heute auch alle schon tot.

Nur: gelebt haben sie das Leben nicht, das hätte sein können zwischen 1914, 15, 16 und heute. Waren ihr Leben lang tot.

Ich muss so denken, damit ich diesen enormen Abstand überbrücken kann. Diesen Graben von rund hundert Jahren. Ich hab ja keinen gekannt.

Das war mit dem 2. Weltkrieg anders. Da war mein Vater mit dabei. Und da ahnst Du das enorme Schwein, dass Du gehabt hast, weil dein Vater trotz allem überleben durfte. Und du bist geworden. Gott sei Dank.

Aber die dort auf den Feldern…

So tot sie sind, so fern sind sie mir, wenn ich denn nicht beginne, an das Leben zu denken, das sie nicht gelebt haben.

Es ist ja wohl bis heute so, dass wir abgestumpft sind gegenüber den Toten. Vielleicht haben sich unsere Augen zu sehr an die Leichen im Fernsehn gewöhnt. Ich muss immer erst begreifen, dass dort ein Leben vor seiner Zeit beendet wurde.

Ein Leben, das darauf wartete, gelebt zu werden: zu pflanzen und auszureißen, abzubrechen und zu bauen, zu weinen und zu lachen, zu klagen und zu tanzen, zu suchen und zu verlieren, zu behalten und wegzuwerfen… alles hat seine Zeit in einem Leben, das gelebt werden darf.

„Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde: geboren werden hat seine Zeit, sterben hat seine Zeit…“, sagt der Prediger Salomo. (Prediger 3,1) Aber im Krieg, da sterben sie vor ihrer Zeit.

Und wo ich’s ahne, kommt’s mir nahe, weil ich leben durfte, und wie!

II.
Hannes Wader sang sein Lied „Es ist an der Zeit“ in der Friedensbewegung der 80er.

Damals, als ein tiefer Riss durch unsere Gesellschaft und – ja auch unsere Kirche ging: Friedensbewegt die einen. Und für eine wirksame Abschreckung die anderen. Rechthaberisch beide. Darum: Tiefe Gräben, die ihre Zeit hatten. Denn Streit hat seine Zeit und Friede hat seine Zeit.

Und was ist heute an der Zeit?

Heute sind wir in einer schizophrenen Stimmung: Sind Sofa-Pazifisten geworden, die zugleich die andern machen lassen; die in Bündnissen dominieren wollen, aber sich die Finger möglichst nicht schmutzig machen. Sollen doch die Türken Bodentruppen schicken. Ein bisschen Krieg darf sein, nur kosten darf er nichts… Dran verdienen ist bei weitem komfortabler. Merkwürdige Haltung, im Wohlstand und Frieden geboren, die wir genießen dürfen – Gott sei Dank.

Und immer noch besser, als das „Hurra!“ mit dem viele damals für Volk und Vaterland und Kaiser und – sie glaubten es ja – und für Gott in den Krieg zogen: „Gott mit uns“ auf dem Koppelschloss!

Gewiss nicht alle. Die Bauern hätten zu ernten gehabt im August 1914.

Denn alles hat seine Zeit. Nur der Krieg kommt immer zur Unzeit.

III.
Wie Schlafwandler sei man hineingeschliddert, sagt der australische Historiker Christopher Clark. Der Krieg als die Folge einer Kette von Entscheidungen verschiedener Akteure, die keinesfalls zwingend waren. Aber in der Komplexität der Lage und Bündnisse habe niemand die Konsequenzen recht übersehen und die richtigen Schlüsse gezogen. Hinterher ist man immer schlauer.

Das Beunruhigende: Clark verweist auf Parallelen zur Komplexität der Weltpolitik heute und konstatiert: So etwas könnte auch heute passieren. Dass man Entscheidungen trifft, deren Risiko man nur ahnt, aber nicht wirklich abschätzen kann.

Ob die Ukraine so eine Krise ist?

„Denn jedes Vorhaben hat seine Zeit und sein Gericht, und des Menschen Bosheit liegt schwer auf ihm. Denn er weiß nicht, was geschehen wird, und wer will ihm sagen, wie es werden wird?“ heißt‘s beim Prediger Salomo (8,6), jenem altisraelitischen Weisheitslehrer, der die Erfahrung seiner Zeit zu einer macht, die bleibend gültig scheint:

„Denn er weiß nicht, was geschehen wird, und wer will ihm sagen, wie es werden wird? Der Mensch hat keine Macht, den Wind aufzuhalten, und hat keine Macht über den Tag des Todes, und keiner bleibt verschont im Krieg, und das gottlose Treiben rettet den Gottlosen nicht.
Das alles hab ich gesehen und richtete mein Herz auf alles Tun, das unter der Sonne geschieht zur Zeit, da ein Mensch herrscht über den andern zu seinem Unglück.“ (Prediger 8,6-9)

Der Prediger lehrt die Skepsis, die Skepsis dass wir wissen könnten, was am Ende dabei herauskommt.

IV.
Als die Soldaten loszogen im August 1914 mit Blumen im Gewehr und Sträußen am Helm, da war die Zuversicht groß, bald siegreich wieder heimzukehren. Die Bürger grüßten und die Kirchen segneten und die Kerle marschierten und ahnten nicht die Hölle, die auf sie wartete: „dass keiner verschont bleibt im Krieg“, wie es der Prediger sagte.

Doch den Prediger predigte man ja damals nicht, sondern viel lieber
1. Korinther 16,13: „Seid männlich und seid stark“.

Aber das reicht ja nicht mehr aus, wenn Granaten fliegen und Maschinengewehre die Heranstürmenden niedermähen wie die Sense das Gras. Und wenn die Schwaden von Senfgas und Phosphor die Haut reizen, die Mägen erbrechen lassen und die Lungen verätzen, dass man qualvoll dran erstickt.

Der 1. Weltkrieg erfand den Krieg neu.

Und verschonte keinen. Neben die 10 Millionen Opfer auf den Schlachtfeldern traten 7 Millionen zivile Opfer. Zurück blieben Kriegswaisen und –witwen und Invaliden mit vorher unbekannten Entstellungen und Verstümmelungen. Und dann folgte noch die Spanische Grippe und raffte eine weitere Millionen dahin.

V.
„Ja, auch Dich haben sie schon genauso belogen
so wie sie es mit uns heute immer noch tun…“
fängt Hannes Wader seinen Refrain an.

Was aber ist die Lüge?

Der Prediger Salomo würde wohl –anders als Wader - sagen: Die Lüge ist, zu behaupten, wir wüssten, was recht ist.

Wer behauptet, die Konsequenzen zu kenne, zu wissen wie es geht, zu meinen, mit diesem oder jenem militär-chirurgischen Eingriff die Probleme lösen zu können, der lügt.

Der Mensch „weiß nicht, was geschehen wird, und wer will ihm sagen, wie es werden wird?“ – Das ist die Weisheit des Predigers, die uns Heutige zur Vorsicht mahnt.

Nein, wir kennen die Lösungen nicht. Und wir wissen in einer immer komplexer werdenden Welt nicht, was richtig, und was falsch, und was gerecht ist. Und müssen dennoch handeln.

Ukraine, Syrien, Irak, Islamischer Staat, Südsudan, Israel und Palästina… Wir wissen nicht, wie es werden wird, wir haben die Lösung nicht, und müssen dennoch handeln.

Aber bitte nie wieder mit „Hurra“ und „Heidewitzka“, sondern mit der Demut und Gottesfurcht derer, die gelernt haben, dass sie nicht wissen können, was geschehen wird, und das ein jedes Vorhaben, ein jedes, sein Gericht haben wird: Auch unser Tun. Auch unser Lassen.

Wir müssen handeln. Aber können dies als Christenmenschen nur tun im Wissen darum, nicht zu wissen und eben darum schuldig werden zu können.

Uns dies einzugestehen, wäre an der Zeit 100 Jahre nach einem Krieg, in den alle zogen, alle, mit dem Selbstbetrug, dieser Krieg sei gerecht.

Machen wir uns nichts vor. Es ist an der Zeit.
Amen.

[Die Idee zum Predigttext fand ich in einer Predigt von Pfarrerin Kathrin Oxen, der Leiterin des EKD Zentrums für evangelische Predigtkultur in Wittenberg. Auch Oxen bezieht sich auf den Text von Hannes Wader und kommt zu einer sehr anderen, sehr lesenswerten Predigt: http://www.ekd.de/themen/material/erster_weltkrieg/predigt.html]

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Wir stehen im Morgen - Liedpredigt

„…s’ist leider Krieg – und ich begehre, nicht schuld daran zu sein!“

Fröhlich soll mein Herze springen