Adam, wo bist Du?

Predigt in der Predigtreihe: "Was ist der Mensch?"
„Was ist der Mensch?“ – Heute: „Das Ohr“


Liebe Gemeinde, vielleicht noch einmal ein grundsätzlicher Gedanke vorweg: Wir haben ja einen Zugang zum Thema des Menschseins gewählt, der erklärungsbedürftig ist. Denn er geht grundsätzlich von der Leiblichkeit des Menschen aus und fragt von den Gliedern oder Organen des Leibes nach Grunddimensionen des Menschseins.


Dahinter steht ein aus den Quellen der Bibel gewonnenes Denken, das in unserer Denktradition weitgehend verloren gegangen ist und erst auf Umwegen – zum Beispiel durch die anthropologische Medizin in den 50er Jahren oder die psychosomatische Medizin wiedergewonnen wurde, nämlich eine ganzheitliche Sicht des Menschen, in der klar ist, dass der Mensch kein Geistgewesen ist, und dass der Leib nicht etwas Sekundäres, vom eigentlichen Menschen, seinem vielleicht in der Seele vermuteten Wesenskern, zu Unterscheidendes.


Der Mensch ist immer eine Einheit aus Leib, Seele und Geist.


Wir hatten das in Theologie und Frömmigkeit aus den Gedanken verloren, hatten in Platons Nachfolge Seele und Leib geschieden und den Leib in unserer Tradition gering geschätzt.


Dass wir ihn auf diesem Wege auch schutzlos dem Missbrauch durch Arbeit, Sexualität und Ideologie preisgegeben haben, gehört zu dieser Geschichte dazu.


Biblischem Denken ist das völlig fremd; da gibt es eine Linie der Kontinuität von der ersten Erzählung der Schöpfung bis zur paulinischen Auferstehungshoffnung.


Demnach hat der Mensch keinen Leib, sondern er ist Leib.


Er ist lebendige Materie, Erde vom Acker, lebendig gemacht durch den Lebensatem Gottes: Und so wurde aus Erde vom Ackerboden – hebräisch Adamah – der Mensch – hebräisch: Adam.


Es gibt den Menschen nicht ohne seinen Leib, es gibt auch keinen unzerstörbaren Kern, der im Leib wohnt oder gefangen ist – jedenfalls nicht in der biblischen Tradition.


Weil das aber so ist, dass der Mensch nicht ohne Leib existiert, darum ist auch die Gottesbeziehung ganz leiblich. Bis hin zur Auferstehung, die sich Paulus nicht anders vorstellen kann, als in einem verklärten Leib, aber in einem Leib.


Weil nun Gott diese tote Materie durch seinen Atem zum Leben erweckt hat, es also die in uns wirkende Lebenskraft Gottes ist, die unseren Leib, unseren Geist und unsere Seele lebendig macht, darum hat auch die Materie, hat auch der Leib, hat jedes Körperteil einen Gottesbezug.


Die Bibel weiß für jedes Gliedmaß und jedes damals bekannte Organ einen Gottesbezug auszumachen.


Und also auch für das Ohr.


II.

Das Ohr nämlich, es ist nicht nur in der Alltagserfahrung jenes Organ, mit dem wir in besonderer Weise in der Lage sind, wahrzunehmen, was andere sagen, singen, klagen, flüstern… sondern es gilt als das Organ, das auch für die menschliche Wahrnehmung Gottes steht.

Denn Gott ist kein Gott, den man sehen kann – man kann seine Werke ansehen, die Wunder die er getan hat, ja, das wohl, aber ihn selbst kann man nicht sehen, sondern nur hören.


Gott lässt sich hören. Ganz zart zum Beispiel, so dass man die Ohren spitzen muss, wie es die Geschichte von Elia am Horeb erzählt: Wo Sturm, Feuer und Erdbeben zu hören sind, Gott sich aber hören lässt nicht im Sturm, im Feuer, im Erdbeben, sondern in einem zarten, sanften Säuseln, in einer verschwebenden, kaum hörbaren Stimme. Eine Geschichte, die wir in unserer lauten Zeit nicht oft genug bedenken können.


Gott, in der Stille zu hören.


Darum sind mir die geöffnete Kirche und der Raum der Stille so wichtig, weil wir ja keine wirklich „stillen Kämmerlein“ mehr haben, um auf Gott zu hören.


Sich einzuüben, in diese Kultur des Hinhörens, das ist eine ganz ursprüngliche spirituelle Übung. Der Knecht Gottes in Jesaja (50) betet: „Alle Morgen weckt er mir das Ohr, dass ich höre, wie Jünger hören. Gott der HERR hat mir das Ohr geöffnet.“


Als Schüler früher bin ich immer etwas früher aufgestanden, um eine Zeit der Stille zu haben und mich nicht gleich in die laute Betriebsamkeit einer sechsköpfigen Familie zu stürzen.


Und heute genieße ich es, in Ruhe den Frühstückstisch zu decken, ehe die Betriebsamkeit einer ebenfalls wieder sechsköpfigen Familie losgeht.


Der Hinweis, den ich damit geben will, ist der, sich in den Vollzügen unseres Alltages einzuüben ins Schweigen und Hören. Ob das nun beim Abwaschen, beim Spülen, beim Autofahren oder Kinderwagen schieben ist, beim Putzen oder Unkraut jäten, beim Kochen oder dem Gang zur Arbeit oder, oder, oder: Die Stille hören und die Ohren öffnen für das, was Gott zu sagen hat.


III.

Damit das jetzt nicht zu seicht wird, muss ich allerdings noch einmal von dort aus weiterfragen: Was heißt das denn für die Grundbestimmung des Menschseins, dass er in der Lage ist, zu hören, und dass Gott spricht?

Es heißt dies: Der Mensch ist grundsätzlich ein Angesprochener.


Und als Angesprochener steht er unter dem An-spruch Gottes, ist aufgerufen, ihm mit seinem Leben zu ant-worten, zu ent-sprechen.


Das heißt: Dem Anspruch Gottes entspricht die Ver-antwortung des Menschen.


Die Bibel macht es schon auf den ersten Seiten deutlich. Da haben Adam und seine Frau von der verbotenen Frucht gegessen. Und verstecken sich nun im Gebüsch. Und der Herr geht durch den Garten und ruft: „Adam, wo bist du?“


„Adam, wo bist du?“ – „Mensch, wo bist du?“


Weil Gott uns zwei Ohren gegeben hat, stehen wir allesamt unter diesem Ruf: „Mensch, wo bist du?“


Es ist der Ruf Gottes, dem ich mich nicht entziehen kann. Vor dem es keine Ausreden gibt. Es mag ja sein, dass wir uns in unserer Gesellschaft wunderbar vor jeder Verantwortung drücken können.


Wir bleiben aber unter dem Anruf Gottes: „Adam, wo bist du?“


Wo bist du, wenn es um die Not und das Leid des Nächsten geht? Wo bist du, Mensch, wenn es darum geht, die Schwachen zu stärken, mit den Müden zu reden, Trauernde zu trösten…


Wo bist du, Mensch, wenn es darum geht, die Schöpfung zu bewahren und unseren Kindern eine lebensfähige, lebenswerte und zukunftsfähige Welt zu überlassen.


Adam, wo bist Du, wenn es darum geht, unsere Gesellschaft zu gestalten, die Gemeinde aufzubauen… wo bist du?


Apropos Gemeinde: Wissen sie wie das griechische Wort für Kirche heißt? „Ekklesia“ – auf deutsch übersetzt: heraus-gerufen. Wir sind die Herausgerufenen aus der scheinbar anonymen Masse, Herausgerufen durch die Taufe. Und damit gemeinsam mit dem berufenen Volk Israel unter Gottes besonderen Schutz und Auftrag gestellt.


Adam, wo bist Du? Das ist im biblischen Verständnis die Grundbestimmung des Menschen: Gerufener zu sein, Angesprochen von Gott. Von ihm beauftragt und ihm verantwortlich.


Darum durchzieht die Bibel auch die Einladung, mit der wir sie am Beginn des Gottesdienstes begrüßt haben: „Heute, wenn ihr seine Stimme hören werdet, so verstockt Eure Herzen nicht.“


Wer Ohren hat zu hören, der höre.

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