Predigt zu Römer 3,21-28

Kaum ein Text der Bibel ist so sehr prägend gewesen für die Geschichte der Theologie, wie der Römerbrief des Apostels Paulus. Alle großen Zäsuren der Theologie gründen in ihm.

Es hätte ihrer nicht bedurft, wäre er eindeutig. Aber da sich die Bedeutung eines Textes mit der Anzahl seiner Leserinnen und Leser vervielfacht, ist auch kaum ein Text der Bibel so kontrovers verstanden, so viel erforscht worden mit so wenig Konsens, wie der Römerbrief.

Und nun, liebe Gemeinde, soll ich heute Morgen predigen über einen zentralen Abschnitt aus diesem Brief, über Römer 3, 21-28.

Und scheitere schon daran, mich festzulegen auf eine Übersetzung des Abschnitts, weil schon die Übersetzung Interpretation erfordert.

Martin Luther wenigstens hat darüber Rechenschaft abgelegt in seinem „Sendbrief vom Dolmetschen“, wo er verriet, dass er das Wort „allein“ zum Glauben hinzugefügt hat, um in der Übersetzung zu verdeutlichen, was er meinte im Original gelesen zu haben: „So halten wir es nun, dass der Mensch gerecht werde ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben.“

„Man muss dem Volk aufs Maul schauen“, damit sie es verstehen.

Ach, wenn es mir heute Morgen gelänge.

Geben wir drum dem alten Reformator das Wort und lesen den Predigttext aus seiner Übersetzung, gedruckt 1545:

Nun aber ist ohne Zutun des Gesetzes die Gerechtigkeit, die vor
GOtt gilt, offenbaret und bezeuget durch das Gesetz und die Propheten.

Ich sage aber von solcher Gerechtigkeit vor GOtt, die da kommt
durch den Glauben an JEsum Christum zu allen und auf alle, die da
glauben.

Denn es ist hie kein Unterschied; sie sind allzumal Sünder und
mangeln des Ruhms, den sie an GOtt haben sollten,

und werden ohne Verdienst gerecht aus seiner Gnade durch die
Erlösung, so durch Christum JEsum geschehen ist,

welchen GOtt hat vorgestellt zu einem Gnadenstuhl durch den Glauben in seinem Blut,
damit er die Gerechtigkeit, die vor ihm gilt, darbiete, in dem, daß er
Sünde vergibt, welche bis anher geblieben war unter göttlicher Geduld,

auf daß er zu diesen Zeiten darböte die Gerechtigkeit, die vor ihm
gilt, auf daß er allein gerecht sei und gerecht mache den, der da ist
des Glaubens an JEsum.

Wo bleibt nun der Ruhm? Er ist aus. Durch welches Gesetz? durch
der Werke Gesetz? Nicht also, sondern durch des Glaubens Gesetz.

So halten wir es nun, daß der Mensch gerecht werde ohne des
Gesetzes Werke, allein durch den Glauben.



Wenn Sie auf den Gottesdienstblättern die Gegenüberstellung mit der neuen Lutherfassung oder der Basisbibel verfolgt haben, werden Sie über einige deutliche Unterschiede gestolpert sein. An der ein oder anderen Stelle scheint mir der alte Luther treffender zu sein. Verständlicher vielleicht nicht.

II.
Aber mit dem Verstehen, das ist ja auch so eine Sache. Luther selbst hat darum gerungen, zumal beim Römerbrief:

„Mit außerordentlicher Leidenschaft war ich davon besessen, Paulus im Brief an die Römer kennenzulernen. Nicht die Herzenskälte, sondern ein einziges Wort im ersten Kapitel war mir bisher dabei im Wege: „Die Gerechtigkeit Gottes wird im Evangelium offenbart“.

Ich haßte nämlich dieses Wort „Gerechtigkeit Gottes“, weil ich durch den Brauch und die Gewohnheit der Lehrer unterwiesen war, es philosophisch von der formalen oder aktiven Gerechtigkeit (wie sie es nennen) zu verstehen, nach welcher Gott gerecht ist und die Sünder und die Ungerechten straft.


Ich konnte den gerechten, die Sünder strafenden Gott nicht lieben, im Gegenteil, ich haßte ihn sogar. Wenn ich auch als Mönch untadelig lebte, fühlte ich mich vor Gott doch als Sünder, und mein Gewissen quälte mich sehr. Ich wagte nicht zu hoffen, dass ich Gott durch meine Genugtuung versöhnen könnte…


So wütete ich wild und mit verwirrtem Gewissen, jedoch klopfte ich rücksichtslos bei Paulus an dieser Stelle an; ich dürstete glühend zu wissen, was Paulus wolle.


Da erbarmte sich Gott meiner. Tag und Nacht war ich in tiefe Gedanken versunken, bis ich endlich den Zusammenhang der Worte beachtete: „Die Gerechtigkeit Gottes wird in ihm (im Evangelium) offenbart, wie geschrieben steht: Der Gerechte lebt aus dem Glauben.“


Da fing ich an, die Gerechtigkeit Gottes als eine solche zu verstehen, durch welche der Gerechte als durch Gottes Gabe lebt, nämlich durch den Glauben.


Ich fing an zu begreifen, dass dies der Sinn sei:

durch das Evangelium wird die Gerechtigkeit Gottes offenbart, nämlich die passive, durch welche uns der barmherzige Gott durch den Glauben rechtfertigt, wie geschrieben steht: „Der Gerechte lebt aus dem Glauben“. Da fühlte ich mich wie ganz und gar neu geboren, und durch offene Tore trat ich in das Paradies selbst ein…“
(Martin Luther, Vorrede zu Band 1 der lateinischen Schriften, 1945; zitiert nach Luther Deutsch, Bd. II, 19f.)

Mit dem Verstehen ist es so eine Sache. Luther verstand Paulus nicht.
Und wir Luther nicht, zumindest nicht ganz:

Die aktive und passive Gerechtigkeit mögen wir auf Anhieb nicht verstehen, die Frage Martin Luthers danach, wie ein Mensch vor Gott gerecht werden kann nicht mehr teilen, wohl aber dies: „und durch offene Tore trat ich in das Paradies selbst ein…“

III.
Nicht das wir schon hindurch geschritten wären, wohl aber kennen wir die Sehnsucht nach dem Paradies. Und kennen wohl auch dies: Die Hölle auf Erden. Ob uns auf diesem Weg geholfen werden kann, die alte Theologie der Reformation für uns heute wieder zu entdecken?

Die Hölle auf Erden oder unter der Erde.

In den letzten Monaten lieferte uns das Grubenunglück in Chile ein Bild: Es ist schwer vorstellbar, wie das sein muss, 70 Tage mit 33 Menschen in einer engen Höhle 700 Meter unter dem Erdboden eingeschlossen zu sein.

Die Welt fieberte mit, als man Tag für Tag die Bohrungen näher heran trieb an die Eingeschlossenen, bis schließlich der Schacht gebrochen war. Schmal und eng, eben nur Schulterbreit, bemessen nach dem kräftigsten der Bergleute. Eine enge Kapsel, in der jeder einzelne, für sich alleine, eine knappe Viertelstunde durch die Röhre nach oben gezogen wurde und sie traten heraus, selig und glücklich in die Arme ihrer Angehörigen: Es muss für sie das Paradies gewesen sein.

Mir legten sich diese Bilder nahe als Bilder, die etwas der alten Theologie Luthers für uns nachvollziehbar machen:

Es gibt Situationen in unserem Leben, in denen Menschen gefangen sind wie in einer dunklen Höhle. Situationen, die uns tief runter drücken, tiefer als 700 Meter, die uns trennen von der Welt da oben voll Licht und Freiheit, Situationen, die uns den Weg versperren zu den Menschen, die wir lieben oder lieben möchten, Gemeinschaft trennen.

Es mögen Situationen sein, in denen das Leben noch möglich ist. Aber wir ahnen, dass es nicht das wirkliche, das volle Leben ist, zu dem wir geschaffen sind.

Phantasien bemächtigen sich unser, Phantasien eines besseren Lebens und einer anderen Welt: Wir sehnen uns nach dem Paradies auf Erden, lassen uns antreiben von unserem Mühen, es besser zu machen.

Und müssen uns doch unser Scheitern eingestehen.

Die Bibel benennt diese lebensfeindliche Macht im Leben mit dem Wort „Sünde“.

IV.
Ein Wort, missbraucht immer und immer wieder in einer moralischen Vereinnahmung, die letztlich verkennt, wie tief diese Kräfte in unserem Leben wirken können: Es geht dabei eben nicht bloß um unser Verhalten, nicht bloß darum, was ich tue und lasse. Die Verstrickungen sitzen tiefer.

Darum war Luther in seiner Zelle so verzweifelt, weil er spürte, dass mit moralisch einwandfreiem Leben dieser lebensfeindlichen Macht nicht zu begegnen ist.

Wie aber dann?

Nicht aus eigener Kraft. Und das ist das unpopuläre an der reformatorischen Theologie. Trotz aller Anstrengung: Ich kriege mein Leben nicht selbst in den Griff.

Wie auch kein Bergmann sich mit bloßen Händen oder Werkzeug 700 Meter durch die Erde ans Tageslicht zu wühlen vermag.

Da konnte die Hilfe nur von außen kommen, nur von oben, unkomfortabel durch einen engen Schacht, gefährlich dazu.

Für den Protestantismus wurde die Formel: „gerecht gemacht allein aus Glaube…“ prägend als Formel, die diesen Sachverhalt trifft: „Allein aus Glauben“ – steht hier im Gegensatz zu unserer Haltung des „Alles ist machbar“ „Jeder ist seines Glückes Schmied“.

Verweist darauf, dass wir uns herausholen lassen müssen aus den Verstrickungen, die uns das Leben in seiner Fülle zu leben verwehren.

Das ist die passive Gerechtigkeit, von der Luther sprach.

V.
Wie aber geht das?

Für Luther ist Christus die Rettungskapsel, die er heruntergelassen hat um einen jeden, eine jede einzelne heraufzuholen.
Wie aber ist das zu verstehen? Wie geht das vor sich?

Genau darüber ist in der evangelischen Kirche in den letzten zwei Jahren ein heftiger Streit ausgebrochen, vielleicht haben Sie es mitbekommen: Ein Streit, der sich entzündete an Radioandachten des ehemalige Bonner Superintendenten und Fernsehpfarrers Burkhard Müller.

In diesen Andachten und vielen Diskussionen danach stellte Müller eine lange Zeit in der Kirche kultivierte und sehr populäre Vorstellung dieses Heilshandelns in Frage: Jene Vorstellung, wonach Jesus geopfert werden musste, um mit seinem Blut für meine Sünde zu bezahlen. Weil ein gerechter Gott in seinem Zorn nur so besänftigt werden kann.

„Nicht so“, sagt Müller und ich stimme ihm zu. Wie aber dann?

An dieser Stelle, liebe Gemeinde, soll der Blick auf die Übersetzung Luthers helfen. Denn da, wo in den modernen Übersetzungen von der „Sühne in seinem Blut“ die Rede ist, hatte der alte Luther anders übersetzt: Christus, den Gott vorgestellt hat „zu einem Gnadenstuhl durch den Glauben in seinem Blut“.

Puh, jetzt heißt es erklären:

Was ist ein Gnadenstuhl?

Seit dem 12. Jahrhundert gab es bildliche Darstellungen der Dreieinigkeit von Gott Vater, Sohn und Heiligem Geist, die als Gnadenstuhl bezeichnet wurden: Gott Vater thront auf einem Stuhl und weist auf den Gekreuzigten oder zeigt den Betrachtern den Gekreuzigten, den er selbst in Händen hält. Und über ihnen schwebt die Taube.

In diesen Bildern zeigt Gott Vater also auf das Heilsgeschehen: „Welchen Gott hat vorgestellt…“ hat Luther übersetzt.

Will sagen: Es geht um ein Geschehen, in dem etwas gezeigt wird. Und das, was gezeigt wird, hat mit unserem Heil zu tun.

Gott selbst zeigt es uns. Er selbst macht die Deutung des Todes Jesu öffentlich. Er selbst zeigt uns das Heil in ihm.

Was aber zeigt er?

In St. Denis in Paris war eine Darstellung des Gnadenthrones zu sehen und schon zu ihrer Zeit berühmt, die das Bild um einen Hinweis auf die Bundeslade ergänzte, jenen Kultgegenstand, der die Gesetzestafeln enthielt, die Grundlage des Bundes Gottes mit den Menschen.

Eine von Abt Sugar stammende Inschrift dieser Darstellung bezeichnete den „Gnadenstuhl“ als einen „auf der Bundeslade errichteten Altar.“

Mich hat das aufmerksam gemacht und ich habe nachgeblättert und gefunden: Luther übersetzt in 3. Mose 16, wo von der Bundeslade die Rede ist, deren Deckel mit Gnadenstuhl. Und dieser Deckel galt als Symbol der verborgenen Anwesenheit Gottes:

„Und der HErr redete mit Mose und sprach: Sage deinem Bruder Aaron, daß er nicht allerlei Zeit in das inwendige Heiligtum gehe hinter dem Vorhang vor dem Gnadenstuhl, der auf der Lade ist, daß er nicht sterbe; denn ich will in einer Wolke erscheinen auf dem Gnadenstuhl.“

Gott selbst erscheint auf diesem Gnadenstuhl, verborgen, geheimnisvoll, aber in aller Macht.

Luther hält in seiner Übersetzung einen Zusammenhang fest, den die Ausleger in jüngerer Zeit wieder entdeckt haben, ohne dass er sich in den Übersetzungen niedergeschlagen hätte.

Mit dem, was hier gemeint ist, ist die Kapporreth, der Deckel der Bundeslade gemeint, die als Sinnbild der geheimnisvollen Gegenwart Gottes gilt.

Gott selbst also hat uns den Tod Jesu als den Ort seiner geheimnisvollen Gegenwart vorgestellt. Und eben darin seinen Bund erneuert, für den schon die alte Bundeslade stand. Einen Bund, denn er in aller Treue hält.

Es geht also um eine Geschichte, in der es um die bleibende Treue Gottes zu uns Menschen geht, die auch an der Sünde, am Scheitern des Lebens, keine Grenze findet.

So, wie in San José die über Tage nicht aufgegeben haben, zu bohren und zu suchen, um die Verschütteten zu retten, so gibt Gott seinen Bund mit uns nicht auf. Lässt sich davon auch nicht abbringen durch die Ermordung seines Sohnes.

Und wer daran glaubt, gewinnt die Kraft zum Überleben. Wie die Männer von San Jose überlebten, weil Sie wussten, das ihnen jemand die Treue hält, nach ihnen gräbt und bohrt, um sie zu retten.

Der Tod Jesu ist das Zeichen dieser Treue Gottes zu uns Menschen.
Und daran zu glauben, ihr Lieben, gibt uns die Kraft zu leben.

Kommentare

  1. Hallo Dietmar,

    der englische Wikipedia-Artikel zum "Gnadenstuhl" ist ganz interessant: http://en.wikipedia.org/wiki/Mercy_seat

    Tyndall hat "mercy seat" offenbar nach Luthers Übersetzung gewählt:

    "for all have synned and lacke the prayse yt is of valoure before God: 24 but are iustified frely by his grace through the redemcion that is in Christ Iesu 25 whom God hath made a seate of mercy thorow faith in his bloud"

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