Predigt zum Sehbehindertensonntag

„Du Menschenkind, du wohnst in einem Haus des Widerspruchs;
sie haben wohl Augen, dass sie sehen könnten,
und wollen nicht sehen,
und Ohren, dass sie hören könnten,
und wollen nicht hören;
denn sie sind ein Haus des Widerspruchs.“

Liebe Gemeinde, das prophetische Wort aus Ezechiel 12 rüttelt auf, weil es eine deutliche Differenzierung vornimmt:

Wem 100% Sehkraft geschenkt ist, der muss noch lange nicht „Sehen“ können und die Sensibilität eines Menschen hängt nicht an seiner optischen Wahrnehmungsfähigkeit.

Sie kennen den kleinen Prinzen: „Man sieht nur mit dem Herzen gut“.

Die biblische Weisheit ist älter und viel näher an der Realität, weshalb sie uns wohl auch weniger sympathisch in den Ohren klingt… „Wer Ohren hat zu hören, der höre…“

Beim Propheten Ezechiel ist es jedenfalls so, dass der Prophet sieht, wie das Volk sehenden Auges ins Verderben läuft.

Und er wird aufgerufen durch die Stimme Gottes, dem Volk diesen Wahnsinn vor Augen zu führen:

„Du aber, Menschenkind, pack dir Sachen wie für die Verbannung und zieh am hellen Tage fort vor ihren Augen. Von deinem Ort sollst du ziehen an einen andern Ort vor ihren Augen. Vielleicht merken sie es, denn sie sind ein Haus des Widerspruchs. Du sollst deine Sachen am hellen Tage vor ihren Augen herausschaffen wie Gepäck für die Verbannung und am Abend hinausziehen vor ihren Augen, wie man zur Verbannung auszieht, und du sollst dir vor ihren Augen ein Loch durch die Wand brechen und da hinausziehen, und du sollst deine Schulter vor ihren Augen beladen und hinausziehen, wenn es dunkel wird!
Dein Angesicht sollst du verhüllen, damit du das Land nicht siehst. Denn ich habe dich für das Haus Israel zum Wahrzeichen gesetzt.“

Im wahrsten Sinn des Wortes, soll der Prophet dem Volk die Konsequenz seines Tuns zeichenhaft vor Augen stellen. Damit ihm endlich die Augen geöffnet werden, auf dass es sieht, soll er sich das Angesicht verhüllen, damit er das Land nicht sieht, sich zeichenhaft zum Sehbehinderten machen.

Liebe Gemeinde, die Situation dürfte uns ja nicht fremd sein, wenn wir denn bereit sind, den manchmal flüchtigen Blick sehender Augen zu vertauschen gegen den Blick des Herzens.

II.
Den manchmal flüchtigen Blick sehender Augen:

Durchschnittliche Amerikanerinnen verbringen 18 Jahre ihres Lebens vor dem Fernseher (durchschnittliche Französinnen etwa 8 Jahre) – Tendenz steigend. Eine vergleichbare Statistik über die Nutzung des Internets habe ich auf die Schnelle nicht gefunden. Sie dürfte dem aber keineswegs nachstehen und vermutlich bei Männern und mit jüngerem Alter deutlich zunehmen.

Über diese neuen Medien erschließt sich uns Sehenden heute das Bild der Welt. In einer Weise, die Dimensionen unserer traditionellen Wahrnehmung der Wirklichkeit außer Kraft setzt:

Die Aufstände im Iran, die Proteste in Bangkok, das politische Leben in Berlin, Brüssel oder Washington, sie finden in unserem Wohnzimmern statt oder unterwegs in der Straßenbahn auf dem Display des Handies. Die natürliche Seherfahrung früherer Zeiten, dass ich etwas, was sich räumlich entfernt abspielt, nicht sehen kann, hat für unsere Generation keine Gültigkeit mehr.

Ebenso die Dimension der Zeit: Fast schon in Echtzeit erhalte ich die Nachrichten aus aller Welt und sollte ich eine verpasst haben, kann ich sie mir ja jederzeit wieder ansehen.

Für unser Sehen spielen die Dimensionen von Zeit und Raum scheinbar kaum mehr eine Rolle.
Wir haben heute Möglichkeiten der Wahrnehmung, die in früherer Zeit höchstens im Kontext von Religion, Spiritualität, Mystik und Esoterik vorstellbar waren: Eine Wahrnehmung, die sich der Bindung an Zeit und Raum entledigt.

Unsere Wahrnehmung, darauf hat zum Beispiel der französische Philosoph Paul Virilio aufmerksam gemacht, macht völlig neue Erfahrungen, von denen man leider aber nicht sagen kann, dass sie uns sensibler gemacht hätten oder machen würden.

„Sie haben wohl Augen, dass sie sehen könnten, und wollen nicht sehen.“

Und wollen nicht sehen:
Wir sehen ja die Notwendigkeit zum Sparen, aber…
Wir sehen die Notwendigkeit, endlich etwas gegen den Klimawandel zu tun, aber…
Wir sehen das Öl im Golf von Mexiko, aber…

Nein, liebe Gemeinde, mit dem Sehen allein ist es nicht getan.

III.
Mit dem Sehen allein ist es nicht getan. Es ist die Erfahrung so manches Sehbehinderten, dass sein Leben, so sehr es eingeschränkt ist – „behindert“ – ist, weil das Sehvermögen beschädigt ist, doch keineswegs an Intensität verloren hat, dass die Entdeckung anderer Sinne und die Entwicklung neuer Fähigkeiten neue Dimensionen des Lebens erschließt.

Und dass man wohl mit dem Herzen sehen kann, auch wenn die Augen erblinden.

Das ist nicht der ignorante Versuch eines Sehenden, Sehbehinderungen schön zu reden, sondern der Versuch, Sehende und sehbehinderte Menschen aufeinander zu beziehen und füreinander zu sensibilisieren.

Aus der Sicht der „Gesunden“ erfahren „behinderte“ Menschen häufig einen mitleidigen Blick, der sie defizitär betrachtet: Der Mensch kann ja nicht sehen; der Mensch kann ja nicht laufen; der Mensch kann ja nicht…

Und daraus erwächst ganz viel Unsicherheit: Darf ich das ansprechen? Soll oder muss ich ihm oder ihr gar helfen? Oder wechsel ich doch lieber die Straßenseite?

Wofür uns aber oft die Sensoren verschlossen sind, ist wahrzunehmen, dass sich kein Mensch auf seine Behinderung reduzieren lässt, sondern Lebenserfahrungen gemacht hat, Fähigkeiten entwickelt hat, die wahrzunehmen uns gut tun.

Wenn wir heute hier einander begegnen, dann wünsche ich uns ganz viel Unbefangenheit im Miteinander: Entdecken Sie neue Dimensionen des Lebens in der Begegnung mit Menschen, die vielleicht in einer Hinsicht eingeschränkt, dafür aber in vielerlei Hinsicht reicher sind, als wir zu denken wagen.

IV.
Es könnte uns diese Begegnung helfen, neu zu entdecken, dass sich „Sehen“ nicht reduzieren lässt auf die Möglichkeiten, mit unseren Augen etwas zu sehen. Sondern das „Sehen“ mehr ist: Etwas zu tun hat mit der Offenheit, das Wahrgenommene an mich ran zu lassen und in mein Herz zu lassen.

Im Epheserbrief lese ich das Gebet: „Er gebe euch erleuchtete Augen des Herzens“ (Eph 1,18). Der Bitte schließe ich mich gerne an:

Gott, gib Du uns erleuchtete Augen des Herzens,
dass wir einander sehen, auch wenn unsere Augen und nicht blicken lassen.

Amen.

Kommentare

  1. Die ist der obligatorische Test, ob die Kommentarfunktion funktioniert

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