Predigt zu Römer 14,10-13

2005: Während sich in Deutschland so etwas wie „Ostalgie“, eine verklärte Erinnerung an die DDR, breit macht, konfrontiert der Regisseur Florian Henckel von Donnersmarck das breite Publikum mit einem dunklen Kapitel dieser Vergangenheit.

Das „Leben der anderen“ spielt in Ostberlin, Mitte der 80er Jahre.

Als Verhörspezialist wird Stasi-Hauptmann Gerd Wiesler selbst von den eigenen Leuten gefürchtet. Nun setzt ihn sein Vorgesetzter und Jugendfreund Grubitz auf den der Linienuntreue verdächtigten Theaterregisseur Georg Dreyman an.

Was wie ein Routinefall beginnt, entwickelt sich zum Wendepunkt in Wieslers Leben. Nicht ganz unschuldig daran: Dreymans lebenslustige Hauptdarstellerin, die auch vom Kultusminister begehrte Christa-Maria Sieland.

Um ihretwillen wird Wiesler auf den Regisseur angesetzt und bespitzelt sein Leben, anfangs mit Akribie und in der Überzeugung, einem größeren Ganzen zu dienen, bis er merkt, Instrument persönlicher Interessen zu sein…

Für mich wirft dieser Film ganz elementar die Frage auf, wie Menschen dazu kommen, das Leben der anderen auszuspionieren und zu beschnüffeln.

So manch einer war nach dem Ende der DDR entsetzt und tief enttäuscht, wenn herauskam, wer alles auf wen ein Auge hatte, Berichte schrieb und Linientreue beurteilte.

Hat denn keine natürliche Scham zu verhindern geholfen, dass Nachbarn ihre Nachbarn, Kollegen ihre Kollegen, dass Kinder ihre Eltern, Eltern ihre Kinder, Frauen ihre Männer, Männer ihre Frauen bespitzelten?

II.
Natürliche Scham…

Liebe Gemeinde, was derzeit in den Medien aus dem Leben anderer berichtet wird, kennt keine Schamgrenzen mehr und erschrickt in dem Kontext systematischer Beobachtung, den ich eben aufgezeigt habe.

Längst sind es nicht mehr nur die Prominenten, die Schönen und Reichen, „die da oben“, deren Leben in die Öffentlichkeit gezogen wird, sondern das der einfachen Leute: der Familie, die Probleme hat, ihre Kinder zu erziehen, des Paares beim Geburtsvorbereitungskurs oder der Entbindung, das Leben der Familie, die ihr Chaos nicht in den Griff bekommt… alles wird heute mit Kameras gefilmt, an die Öffentlichkeit gezerrt und im Fernsehn oder auf Youtube der neugierigen Masse zum Urteil vorgelegt.

Wir leben in einer Zeit eines schamlosen Voyeurismus, in der es uns gut tut, uns die Mahnung des Apostels Paulus zu Herzen zu nehmen: „Du aber, was richtest Du deinen Bruder? Oder Du, was verachtest Du deinen Bruder?“

III.
Beim Apostel Paulus ging es um einen konkreten Konflikt, stehen hinter den Worten konkrete Menschen und Begebenheiten.

Da gab es in der Gemeinde Menschen, - Paulus nennt sie die „Starken“ -, die aßen Fleisch und hielten keine besonderen Tage, weil sie in Christus eine große Freiheit gegenüber allen Beschränkungen und Normen entdeckten, und eben „Schwache“, die meinten, Askese üben und bestimmte Tage halten zu müssen.

Und beide waren der Auffassung, dass ihr Verhalten dem Willen Gottes entspricht: Die einen, weil sie an der alten Tradition festhalten, die anderen, weil sie Neues wagen.

Ich spare uns jetzt den Exkurs auf unsere eigene Gemeinde: Denn da gibt es das ja nicht, diesen Konflikt zwischen Erneuerern und Traditionalisten, etwa zwischen Fans der „neuen Liturgie“ und solchen, die meinen, der Antichrist persönlich sei am Werke, wo Neues erprobt wird…

„Du Neuerer, du Starker, du Freier, was verachtest du deinen Bruder?“ fragt Paulus. „Und Du, der du die Tradition, das Alt-Hergebrachte, Normen und Werte hochhältst, was richtest du deinen Bruder?“

Sie merken, Paulus würde uns in unserer Kultur aus Verachtung und Verurteilung gut tun.

IV.
Gut tun, weil er unseren auf uns und das Leben der anderen gerichteten Blick über uns hinaus heben lässt, verweist auf einen Punkt jenseits von uns und unserem Urteilsvermögen:

„Wir werden alle vor den Richterstuhl Gottes gestellt werden.“

Der Richterstuhl Gottes:
Wir haben wahrscheinlich alle irgendwelche mittelalterlichen Darstellungen des Weltgerichtes vor Augen, wo Christus thront und die einen zur Linken, die anderen zu Rechten weist, diese zum ewigen Leben, jene aber ins ewige Verderben.

Liebe Gemeinde, das mag zwar auch ein wirksames Bild sein, aber für dieses Bild würde ich nicht behaupten, dass es uns gut tut.

Viel eher macht es Angst.

Und Angst hilft nicht zum Leben.

Können wir denn dem alten Symbol des Richterstuhles etwas Gutes abgewinnen, etwas, das zum Leben hilft.

Ich will’s versuchen.

1.
Der Richterstuhl, die Bäma, war in der Antike einfach ein Klappstuhl, auf den der Richter Platz nahm. Ähnlich wie heute die Robe bei Gericht symbolisierte dieser Stuhl den legitimen Ort der Rechtsprechung.

Wer nicht auf dem Richterstuhl sitzt, hat nicht das Recht zu richten.

Das denke ich, ist das erste, was Paulus mit diesem Hinweis aufzeigt: Es ist nicht an uns, zu richten und zu urteilen. Und nicht an anderen, uns zu richten und zu urteilen.

Und spätestens mit dem zweiten Satz beginne ich die Befreiung zu ahnen, die sich damit verbindet: Es ist nicht an mir, zu richten und zu urteilen, es ist aber auch nicht an anderen, über mich zu richten und zu urteilen.

Für mich ergibt sich damit eine ungeheure Freiheit: Ich muss mein Leben nicht am Urteil anderer ausrichten.

Das ewige Vergleichen: Bin ich besser als andere, wo ist der Punkt der Schwäche beim anderen, damit ich glänzen kann – dem Kirchenvater Augustin wird in den Mund gelegt, der Vergleich sei der Beginn der Sünde – das ewige Vergleichen darf ein Ende finden.

Ich muss nicht versuchen, meinem Leben auf Kosten des Lebens anderer einen Wert zu geben.

2.
Und damit gewinne ich eine zweite Perspektive, die mir gut tut. Denn weil wir alle vor Gott erscheinen, darf ich mein Leben wertgeachtet wissen. Ich bin als Individuum, als einzelner Mensch es Gott wert, dass er einen Blick auf mich hat.

„Es kommt darauf an, dass einer es wagt, ganz er selbst, eine einzelner Mensch, dieser bestimmte einzelne Mensch zu sein…“ hat der Philosoph Sören Kierkegaard an der Bibel erkannt.

Es kommt darauf an, dass einer es wagt, ganz er selbst, ein einzelner Mensch, dieser bestimmte einzelne Mensch zu sein…“
Und nicht der, den andere vielleicht gerne hätten.
Ich bin befreit und berufen, mein Leben zu leben und nicht das Leben der anderen.

Fragen Sie sich einmal selbst, wo sie überall die Anpassung und die Anerkennung suchen und dabei ihr eigenes Leben, ihr eigenes Wollen, ihre eigenen Werte hinten anstellen.

Ich bin befreit und berufen, mein Leben zu leben und nicht das Leben der anderen.

3.
Nun könnte dieser Gedanke schnell dazu herhalten, den rücksichtslosen Individualismus, den wir ja auch zur Genüge erleben, zu legitimieren, stünde der Gedanke ohne das Bild vom Richterstuhl im Raum.

Dieses Bild aber trägt in sich natürlich die Botschaft, dass wir unser Leben in Verantwortung zu leben haben. Wir sind für unser Tun und Lassen verantwortlich.

„Darum lasst uns nicht mehr einer den anderen richten; sondern richtet vielmehr darauf euren Sinn, dass niemand seinem Bruder einen Anstoß oder ein Ärgernis bereite.“

Paulus reklamiert diese Verantwortlichkeit für das Zusammenleben in der Gemeinde, macht deutlich, dass alle in der Gemeinde die Verantwortung dafür tragen, dass die Vielfalt der Interessen und Gaben miteinander in einer Gemeinde gelebt werden können.

Und lenkt damit den Blick weg vom Leben der anderen auf mein eigenes Leben: Nicht von den anderen habe ich zu erwarten, dass sie ihr Leben, ihre Spiritualität, ihre Art, zu glauben, so ändern, dass es mir passt, sondern von mir, dass ich mein Leben, meinen Glaube so lebe, dass er den anderen Freiheit und Raum lässt, sie selbst sein zu können.

Freiheit und Raum lässt, sie selbst sein zu können – Es geht nicht darum, dass alles gleich wird, alle stark oder alle schwach, sondern dass beides seinen Raum gewinnt, ohne Verachtung durch die einen und Verurteilung durch die anderen.

V.
Das mag gelingen, wenn wir uns zum Schluss einlassen können auf das Ziel und die Bestimmung, die Paulus für uns Menschen in der Gemeinde, ganz gleich wie wir glauben und feiern, im Blick hat.

Er liest diese Bestimmung und dieses Ziel aus dem Jesaja Buch:

„So wahr ich lebe, spricht der Herr, mir sollen sich alle Knie beugen und alle Zungen sollen Gott bekennen. “ Und Paulus fügt an: „So wird nun jeder von uns für sich selbst Gott Rechenschaft geben.“

Was machen wir eigentlich vor diesem Richter: Nein, kein Versuch, uns zu verteidigen, sondern nur dies: die Knie beugen und anbeten.

Letztlich ist dies wohl der Fokus des Bildes vom Gericht: Nicht, dass wir verurteilt, verdammt oder gerettet werden, sondern dass wir uns wieder finden in der Gemeinschaft derer, die Gott loben und ihn bekennen. In der Gemeinschaft derer, die ihr Leben Gott anvertrauen, nicht dem Urteil anderer, die ihn loben, nicht sich selbst…

Und die eben darin das Leben der anderen respektieren können und ihr eigenes Leben achten.
Amen.

Kommentare

  1. Monika E. Wegener30. Juni 2010 um 18:13

    Erst einmal freut es mich sehr, dass ich Predigten, die ich nicht "live" im Gottesdienst hören konnte, hier nachlesen kann, denn seit 8 Wochen liege ich mit gebrochenem Fuß zu Hause und habe noch mindestens 2 Wochen vor mir.....

    "Richte dein Ich auf Gott und sei der/die du bist!" so heisst es sinngemäß in der Auslegung eines Gleichnisses in Drewermanns Buch "Wenn der Himmel die Erde berührt".

    Und wenn ich vor Gott so sein darf wie ich bin, gelten Maßstäbe der Menschen nicht. Jeder verantwortet selbst sein Tun und Lassen vor Gott. Die Bibel, Gottes Wort, sagt es.

    Menschen können mir Vorbild sein, aber nicht Maßstab. Wer Maßstäbe der anderen gelten lässt muss feststellen, dass es IMMER jemanden geben wird, der besser oder schlechter ist.

    Und darüber müssen wir uns keine Gedanken machen, denn wir sind ja Unikate. "God´s Original"!

    Herzliche Grüße
    Monika E. Wegener

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