Gegen die Sprachlosigkeit des Sterbens



Predigt zu Mt 27,33-50 an Karfreitag

Wenn ich einmal soll scheiden…

Liebe Gemeinde, der Kunst zu leben, geht die Kunst zu sterben voraus.

Die Klugen hat Gott zuvor gelehrt, zu bedenken, dass wir sterben müssen. Nur Toren achten nicht das Ende ihrer Zeit. Wer es aber bei Zeiten lernt, wird leben, auch wenn er stürbe.

Manch einer muss erst den Hauch des Todes spüren, ehe er das Leben lernt:

„Nein, ich will leben. Ich will auf alle Fälle leben. Aber nicht, um wieder in diesen blinden Trott zu verfallen, noch schneller, noch mehr, sondern ich will ein Leben leben, das einen Sinn ergibt und sich den Menschen nähert.“  (21ff.)

Christoph Schlingensief schreibt das, an Krebs erkrankt, nur ahnend, dass er, der Regisseur so vieler Bühnen, längst nicht mehr Regie führt auf der Bühne seines Lebens. Er, Christoph Schlingensief, schreit nach Leben.

Sein Tagebuch „So schön wie hier kann‘s im Himmel gar nicht sein!“ berührt und bewegt in diesem Ruf nach Leben und seinem Schrei nach Gott.
 
Berührt in beidem, in seinem Ringen um Autonomie und Unabhängigkeit ebenso wie in der Erfahrung, am Ende nur noch von Gott gehalten und getragen zu sein. Sein Buch, schreibt er am Anfang, sei  „kein Kampfschrift gegen eine Krankheit namens Krebs, Aber vielleicht eine für die Autonomie des Kranken und gegen die Sprachlosigkeit des Sterbens.“ (9)

I.
Die Autonomie des Kranken…

„Ich bin autonom…“, schreibt Schlingensief, „…Inzwischen habe ich das Gefühl, dass der Auftrag seit Abraham eigentlich ist, die Dinge allein zu machen….“

„Ich bin autonom.“ Da ist sie, die Autonomie, die Unabhängigkeit, der wir aufgeklärten Menschen gerne huldigen. Dass wir gerne „unser Ding“ alleine machen wollen. Un-abhängig, ledig und los.

Das begann vielleicht einmal mit der Bergwanderung eines frommen Gelehrten, Francesco Petrarca, am 26. April 1336 auf den Gipfel des Mont Ventoux in Frankreich, getrieben von nicht mehr als dem eigenen Drang, „diesen außergewöhnlich hohen Ort zu sehen“, aus eigenem Antrieb, dem eigenen Bedürfnis folgend, den Gipfel dort oben erreichen zu wollen, dort, wo er dann inmitten der windigen Natur sich selbst in ihr entdeckt, nicht mehr nur als ein Teil von ihr, sondern als Betrachter, als Subjekt.

Und es ging weiter mit dem berühmten Philosophen Descartes, dem das Selbstbewusstsein des Menschen die einzige Möglichkeit wurde, sich selbst zu beweisen, dass etwas ist: „Ich denke, also bin ich“

Und es treibt heute seine banalen Blüten in den blöden Phrasen von „Selbst ist der Mann“ oder vom Glück, dessen Schmied angeblich ein jeder selber ist.

Eine hohe Individualisierung konstatiert die Soziologie, einen Relevanzverlust der Institutionen, darunter auch der Kirchen, eine Beliebigkeit in Fragen von Glauben und Religion, eine Erosion an Normen und Werten. Stattdessen: Ich bin, was ich habe. Ich bin, was ich kann. Ich bin, was ich leiste. Ich bin autonom.

Und das zählt: Dass ich mein Ding alleine mache.

Jene Rücksichtslosigkeit inklusive, die uns den Kaninchenbraten im Halse stecken lässt.

Wir leben heute in einer scheinbar grenzenlosen Unabhängigkeit, zu der gehört, dass wir Gott nicht mehr brauchen – zur Erklärung der Welt nicht, zur Orientierung in Politik und Gesellschaft nicht, nicht zum Glück im eigenen Leben. Wir haben unsere Freiheit, unsere Autonomie gewonnen und Gott verlassen, sind autonom und frei, unser Ding allein zu machen.

II.
Dagegen dieser Christus. Objekt von Gewalt, Verachtung und Zynismus.

Zu schwach sein Kreuz zu tragen. Da müssen sie jemanden aus der Menge nehmen, der anpackt. Weil er es eben nicht alleine kann.

Den sie dann verspotten: „Zeig, was du kannst – komm doch runter!“

Und dann, hängend am Kreuz, von dem herabzusteigen er eben nicht frei und mächtig ist, sondern angenagelt und kein bisschen autonom mehr, von dort, der Ruf nach jenem Gott, den wir verlassen haben:

„Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“

III.
Liebe Gemeinde, so unvergleichbar der Tod des Christus mit dem Sterben unter uns auch ist,... - Gott sei Dank, die Tode die uns in unserem so fortgeschrittenen und so friedlichen Lande drohen, sind nicht so brutal und von solcher Verachtung begleitet, wie der Tod, den Matthäus beschreibt in einer eiskalten Nüchternheit, mit der Gleichgültigkeit der einen, die um den Mantel würfeln, dem Zynismus der anderen, die den am Kreuz verspotten und noch zusätzlich quälen mit Worten und Wein mit Galle vermischt – Gott sei Dank, das ist nicht unser Tod.

Und doch, so unvergleichbar der Tod des Christus mit dem Sterben unter uns auch ist, so verschieden die Lebens- und Denkwelten sind, in denen er starb und ich lebe, so sehr bringt mich der Ruf des Christus am Kreuz doch dazu, meinen Tod und mein Leben zu befragen:

Was soll ich rufen, wenn mir mein Auge bricht?

Welcher Halt bleibt jenen, die Gott so verlassen haben, dass sie sich von ihm nicht mal mehr verlassen fühlen? Was soll ich schreien in meiner Not am Ende der Zeit oder vielleicht noch weit vor ihr?

Nicht dass ich hinter jene Aufgeklärtheit zurück wollte, die uns so viel Freiheit geschenkt hat. Nicht dass ich mich sehnen würde nach Gesellschaften, in denen der einzelne nicht seinen Wert an sich hat, die einzelne ihr Recht als Person hat ohne Ansehen von Glaube und Sitte.

Aber zusammenhalten will ich es: die Freiheit des Lebens und die Bindung an Gott, das sich Losreißen und das sich Anschmiegen, das Fortgehen-wollen und Heimkehren-dürfen, das Zweifeln an Gott und Vertrauen in ihn.

Am Ende wenigstens noch schreien können nach dem, der in seiner Abwesenheit dennoch da ist.

Kämpfen nicht nur für die Autonomie des Menschen, sondern auch gegen die Sprachlosigkeit des Sterbens.

IV.
Christoph Schlingensief  bekennt, dass im Angesicht des Todes sich seine Beziehung zu Gott gewandelt hat:

„Gestern Abend habe ich noch gebetet. Das habe ich ewig nicht mehr gemacht. Wobei mir vor allem dieses leise Sprechen, das Flüstern mit den Händen vorm Gesicht gutgetan hat, so wie nach dem Empfang der Hostie, wenn man bei sich ist und den eigenen Atem hört und spürt.“ (18)

„Meine Beziehung zu Gott hat sich jedenfalls aufgrund der extremen Situation verändert. Man wundert sich, wie schnell das geht… Ich will mehr wissen über Jesus, mehr Wissen über den Gedanken Gottes und über das Prinzip Leben, zu dem auch das Sterben gehört, das Sterben, zu dem auch das Leben gehört.“ (20f)

„Damit wir begreifen lernen, dass es im Kern um eine Beziehung zum Leben geht, die auch den Tod integriert, die auch das Scheitern mit einbezieht, die nicht nur von Schönheit und Erfolg ausgeht, sondern auch mit Hässlichkeit und Misserfolg rechnen lernt…“ (56)

Und deutlich wird, warum:

Weil er in diesem sterbenden Jesus die Nähe des Gottes spürt, den wir verlassen haben. Die Anwesenheit dessen spürt, der gar nicht mehr Teil unseres Lebens zu sein scheint.

„Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Es gehört zur Logik dieses Satzes, dass er mit der Anwesenheit des Abwesenden rechnet. Dass Gott da ist, wo wir uns von ihm verlassen glauben, da ist und hört.

„Tja, das ist eben das Paradox mit Gott“, schreibt Schlingensief auf den letzten Seiten seines Buches: „Da ist einer weg, ist nicht da, aber trotzdem ganz nah bei uns. Wenn jemand nicht da ist, dann ist er vielleicht einfach das Ganze… Dann kann er alles sein und selbst in seiner Abwesenheit anwesend sein.“ (254)

So bleibt denn immerhin noch ein Schrei, eine Klage, ein Gebet auf den Lippen derer, die sich in aller Autonomie, in aller Unabhängigkeit doch schlechthin abhängig fühlen von jenem Gott, den wir verlassen haben.

V.
Wie viele Menschen in ihrem Sterben letzten Halt gefunden haben - ein Kreuz in der Hand oder ein Kruzifix im Blick? Halt gefunden haben bei diesem Christus, der den Tod erlitten und die Gottverlassenheit geteilt hat.

Mit ihnen will ich beten können:
„Wenn ich einmal soll scheiden, / so scheide nicht von mir, /
wenn ich den Tod soll leiden, / so tritt du dann herfür; /
wenn mir am allerbängsten / wird um das Herze sein,/
so reiß mich aus den Ängsten / kraft deiner Angst und Pein.“

Mit ihnen will ich mich und andere trösten können, dass ich im Leben und im Sterben nicht mein, sondern meines getreuen Heilandes Jesu Christi eigen bin.

Und mit ihnen will ich glauben können, glauben, dass selbst der Ort der Gottverlassenheit kein Ort ist, an dem Gott nicht ist.

Denn als er abermals schrie,
wortlos schrie und verschied,
als der Vorhang zerriss und die Erde bebte,
als Felsen zersprangen und Steine von den Gräbern zerbarsten,
als der Hauptmann erschrak und die Wachen mit ihm,
da war am Ende wahrlich offenbar:
Dieser ist Gottes Sohn gewesen!

Und sie legten ihn in ein Grab,
dass selbst dieser Ort der scheinbaren Gottverlassenheit
nicht mehr zu denken ist
ohne dass er da ist, 
er, jener Gott, den wir verlassen haben.

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