Schwestern und Brüder

Predigt zu Markus 3,31-35 in der Kreuzkirche Bonn

Liebe Schwestern und Brüder,

eigentlich ist mit dieser, wohl nur in der evangelischen Kirche und ihren Synoden so gern benutzten Anrede schon alles gesagt: Liebe Schwestern und Brüder!

In ihr hören wir den ganzen Zuspruch Gottes: Weil Jesus Christus uns zu Schwestern und Brüdern macht, bist Du Gottes geliebtes Kind, über das er seinen Himmel auftut und spricht: „An Dir habe ich mein Wohlgefallen“ (Mt. 3,17).

Und zugleich liegt darin „Gottes kräftiger Anspruch auf unser ganzes Leben“ (Barmen II): Wandelt als Kinder des Lichts (Eph 5,8), denn diese ganze Schöpfung in ihrer Vergänglichkeit wartet doch nur auf die herrliche Freiheit der Kinder Gottes (Röm 8,21).

Damit wir darin gestärkt und ermutigt werden, wird uns heute die folgende Geschichte aus Markus 3 erzählt:

Es kamen Jesu Mutter und seine Brüder und standen draußen, schickten zu ihm und ließen ihn rufen.

Und das Volk saß um ihn. Und sie sprachen zu ihm: Siehe, deine Mutter und deine Brüder und deine Schwestern draußen fragen nach dir.

Und er antwortete ihnen und sprach: Wer ist meine Mutter und meine Brüder?

Und er sah ringsum auf die, die um ihn im Kreise saßen, und sprach: Siehe, das ist meine Mutter und das sind meine Brüder! 
Denn wer Gottes Willen tut, der ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter.
Erbarme dich,
Gott,
meiner Leere.

Schenk mir
das Wort
das eine Welt
erschafft.

So hilf beim Reden und Hören und in beidem:
Hilf beim Predigen.
Amen.

Liebe Schwestern und Brüder: Familie hat jeder. Familie hat jede.

Vater, Mutter und eins Komma vier, fünf, sechs, sieben Kinder… Großfamilie, Kleinfamilie. Heile Familie, zerrüttete Familie. Reiche, arme. Patchwork oder Regenbogenfamilie.

Und selbst, wer nicht selber eine Familie gegründet hat, ist doch Sohn oder Tochter, Bruder oder Schwester, Onkel, Tante, Nichte, Neffe und was es sonst noch an Zuordnungen zur Mischpoke gibt.

Familie hat jeder. Familie hat jede.

„Solange Du Deine Füße unter meinen Tisch streckst…“; „Es wird gegessen, was auf den Tisch kommt, wer das nicht mag, kann ja woanders essen…“, „Wir sind dem Hund nicht vom Hintern abgefallen…“ „Sonntags sitzen wir aber alle gemeinsam am Frühstückstisch…“ „Und am ersten Feiertag besuchen wir immer die Oma!“

Familien folgen ihren eigenen Regeln, kennen ihre je eigenen Gesetze, grenzen sich ab und behaupten sich nach außen, garantieren Halt und Unterstützung nach innen, verteilen Rollen und mit ihnen Macht und Möglichkeiten.

Liebe Schwestern und Brüder, wenn wir jetzt untereinander uns unsere Familiengeschichten erzählen würden – das könnte in mancherlei Hinsicht vielleicht eine Alternative zum Tatort heute Abend sein – dann wüssten wahrscheinlich die meisten von uns zu erzählen von mindestens einem Menschen, der die familiären Bande sprengte, der die Sippe verließ und ganz eigene Wege ging:

Der Ururonkel der nach Amerika auswanderte oder die Uroma, die für das Frauenwahlrecht auf die Straße ging. Der Großvater, der, statt den Hof zu übernehmen, studierte oder die Mutter, die den Mann mit falscher Konfession nach Hause brachte.

Und wer weiß, wer unter uns selber seine Geschichte erzählen könnte als eine Geschichte des ganz eigenen Weges, der Abgrenzung von der Familie, der Emanzipation von der Sippe.

So gesehen ist die Geschichte Jesu auf den ersten Blick wenig aufregend: Ein junger Mann, der, statt den väterlichen Zimmermannsbetrieb zu übernehmen, durch die Lande zieht und Reden schwingt. Die Familie, so erzählt es Markus zuvor, versucht ihn für verrückt zu erklären. Mit wenig Erfolg.

Nun kommen sie wieder, wir wissen nicht, warum, denn Jesus lässt sie außen vor.

Zoff in der heiligen Familie! Ist das schon das Evangelium?

Mag ja sein, dass es all jenen, die sich bis heute Vorwürfe machen, die Familie verletzt zu haben, weil sie ihren eigenen Weg gingen, dass es jenen guttut, zu hören, dass selbst Jesus… Und wenn in der heiligen Familie, warum nicht auch in meiner…? Und wenn Jesus, warum nicht auch ich…?

II.
Aber hier und heute, liebe Schwestern und Brüder, muss doch wohl noch mehr zu sagen sein.

Ich entdecke es im Fortgang der Geschichte, die im Kern eine Ekklesiologie, eine Lehre von der Kirche enthält.

Und die beginnt damit, dass Menschen sich um Jesus Christus versammeln, weil sie auf sein Wort hören wollen und ihr Leben danach ausrichten. Und Jesus sieht sie an, die da im Kreise sitzen, und nennt sie: Schwestern und Brüder!

„Es weiß Gott Lob ein Kind von sieben Jahren, was die heilige christliche Kirche sei“ – „die Versammlung der Gläubigen, bei denen das Evangelium rein gepredigt und die heiligen Sakramente laut dem Evangelium gereicht werden“ – „Er hat uns ferner wohl bedacht und uns zu seinem Volk gemacht / zu Schafen, die er ist bereit, zu führen stets auf gute Weid“…

Der Protestantismus, liebe Schwestern und Brüder, hat dieses Bild von Kirche seinem Kirche-Sein zugrunde gelegt: Kirche ist die Versammlung der Gläubigen, sind die Menschen, die sich um Jesus Christus versammeln und ihr Leben nach Gottes Willen ausrichten.

Nicht Institutionen, nicht Strukturen, nicht Weihen und Ämter konstituieren die Kirche, sondern das Volk, das sich um IHN schart.

III.
Liebe Schwestern und Brüder, nichts Neues und nichts, was nicht die meisten von uns schon wüssten. Das macht es aber leider nicht besser!

Denn wie so oft in unserer Menschheitsgeschichte, ist das, was wir wissen, noch längst nicht das, was wir leben.

Erlauben Sie mir zwei kritische Blicke, zwei geteilte Wahrnehmungen, eine im Blick auf unsere Gemeinden, eine im Blick auf kirchenleitendes Handeln.

Ich fange mit den Gemeinden an:

Es soll ja Gemeinden geben – sicher nicht hier in Bonn… eher auf der anderen Rheinseite… oder hinten in der Voreifel… aber nicht hier – soll es Gemeinden geben, die funktionieren wie Familien, haben ihre ganz eigenen Konventionen, Rollen, Rituale und Regeln:

„Solange ich hier Pfarrer bin…“, „Gemeinde ist so, wie wir sie servieren, und wem das nicht passt, der kann sich ja eine andere suchen…“, „Wir sind doch eigentlich besser, kreativer, lebendiger als andere…“ „Und sonntags sitzen wir aber alle hier in der Kirche…“ Nur das die Enkel die Oma nicht mehr besuchen.

Verstehen Sie mich nicht miss: Ich bin nicht interessiert, weder an einem Familien- noch an einem Gemeindebashing.

Als Familienmensch liebe ich Familie und als Gemeindemensch weiß ich darum, was wir an diesen familiären Strukturen in unseren Gemeinden haben.


Ich jedenfalls würde heute nicht hier stehen – und wahrscheinlich auch der ein oder die andere von Ihnen heute nicht hier sitzen – wenn wir nicht die Erfahrung mit Gemeinden als einer Großfamilie im Rücken hätten: In ihr habe ich gelernt zu singen und zu beten und über den Glauben zu reden und über den Zweifel, habe Halt und Trost gefunden, Ermutigung und Ertüchtigung.

Nur, liebe Schwestern und Brüder, öffnet uns der Predigttext die Augen für die, die nicht zum engsten Familienkreis gehören und dennoch – wenn auch vage - nach einer Kraft zum Leben und einer Orientierung für ihr Tun fragen.

Und dann kommen sie mit ihren Kindern zur Taufe und nicht wenige unter ihnen machen die Erfahrung einer fremden Welt, in der sie jedenfalls nicht zu Hause sind.

Liebe Schwestern und Brüder. Ich glaube, wie jede Familie ihren Abweichler, ihre Abweichlerin, so braucht auch jede Gemeinde in ihren Reihen Menschen, die sich an Jesus ein Vorbild nehmen, den Schritt raus wagen aus ihren Konventionen und Regeln und Rollen und Mustern, die sich denen zuwenden, die ihr Ohr nur von außen an die Kirchenmauern halten.

Braucht solche, die wahrnehmen, dass „Kerngemeinde“ gut und hilfreich ist, Kirche aber immer größer als das warme Nest, das wir uns dort eingerichtet haben.

Jede Gemeinde braucht Menschen mit einem Blick für das Volk jenseits unserer Grenzen, braucht Menschen, die sich gerade darum frei machen von dem, was immer war und Neues wagen.

IV.
Der zweite Blick gilt kirchenleitendem Handeln.

Ich weiß ja nicht, welche Wahrnehmungen Sie haben und welche Presse sie geprägt hat.

Mir jedenfalls stellt es sich so dar, dass im kirchenleitenden Handeln auf allen Ebenen, ob in Gemeinden, Kirchenkreisen, der Landeskirche, der EKD, sehr viel Energie in den Selbsterhalt der Institution „Kirche“ fließt.

Und es wächst so unwahrscheinlich viel Enttäuschung daraus, dass derweil immer mehr Menschen der Institution den Rücken kehren und gesellschaftlich immer weniger danach fragen, was denn die Kirche noch zu sagen hat.

Die Institution Kirche ist in der Krise.

Übrigens nicht erst seit gestern. Vor genau 100 Jahren hat die Weimarer Reichsverfassung die Trennung von Kirche und Staat und mit ihr, ganz neu für kirchliche Erfahrung in diesem Territorium, eine sogenannte „negative Religionsfreiheit“ eingeführt. Und das heißt: Seit 100 Jahren – und das ist gemessen an der ganzen Kirchengeschichte nur ein kurzer Zeitraum – seit 100 Jahren muss niemand mehr einer Religion und damit muss auch niemand mehr zur Kirche gehören.

Bis dahin war es so selbstverständlich, einer Religion anzugehören, wie es selbstverständlich ist, in eine Familie geboren zu werden. Dass diese Selbstverständlichkeit einfach nicht mehr gegeben ist, es kommt ganz langsam an.

Und dann blicke ich mit dieser Wahrnehmung auf unsere Geschichte, in der Jesus die Institution Familie eintauscht gegen die lebendige Gemeinschaft derer, die nach ihm fragen und nach Gottes Willen leben wollen.

Könnte es sein, liebe Schwestern und Brüder, dass für uns heute daraus ein Hinweis folgt, was kirchenleitend wichtig ist?

Dass wir uns nicht darin verkämpfen sollten, partout unsere institutionelle Geltung zu erhalten. Denn sie allein macht es keinem Menschen mehr plausibel, dazu gehören zu wollen.

Und dass wir stattdessen kritisch fragen, in welchen Formen, in welchen Strukturen, was wir brauchen, um nahe bei den Menschen zu sein und mit ihnen – möglicherweise auch in der Kontroverse oder gar im Konflikt - die Frage zu stellen: „Was um Gottes Willen sollen wir tun?“

Die Evangelische Kirche in deutschen Landen hat sich einmal so selbstverständlich als durch höhere Ordnung vorgegebene Institution verstanden und war durch weltliches Recht darin so abgesichert, dass wir uns in aller Ambivalenz „Volkskirche“ nennen konnten.

Heute ist die Volkskirche nicht mehr unser Zustand, sondern unser Auftrag, das Wort Gottes auszurichten an alles Volk. Denn Gott will, dass allen geholfen werde…

Es ist unser Auftrag, das Volk, das die Institution längst verlassen hat, wieder neu in den Blick zu nehmen.

Sich zu ihm zu setzen und mit ihm zu gehen, zuzuhören und zu fragen, es aber auch nicht in Ruhe zu lassen mit der unbequemen Frage, was denn das heute zu tun Gebotene ist.

Aber Vorsicht! – Hochmut ist nicht angesagt, sondern Demut, weil auch wir nicht wissen und nur bruchstückhaft glauben können.

Im Markusevangelium, liebe Schwestern und Brüder, sind die, die Jesus nachfolgen, die letzten, die verstehen, wer er ist. Sie müssen es sich von einem heidnischen Hauptmann sagen lassen: Dieser ist Gottes Sohn.

Es könnte sein, dass uns manche Weisheit der Gasse guttun würde, zu hören und zu beherzigen.

Nicht im Pochen auf institutionelle Rechte gewinnt die Kirche Plausibilität, sondern indem sie Gottes Zuspruch lebt und seinen Anspruch formuliert. Wo Menschen die Erfahrung machen können, - die Erfahrung! - von Gott geliebt zu sein und Orientierung zu finden für ihr Leben, da können Sie uns werden, was wir um Christi Willen sind: Schwestern und Brüder.











Kommentare

  1. Was Predigt soll: die „alten Geschichten“ für uns heute nicht nur verständlich, sondern im Idealfall auch bedeutsam machen.

    Was wir am Sonntag beim Hören eigentlich schon mitbekommen haben:
    beim Nachlesen wird die durchdachte Konzeption noch einmal richtig deutlich und die zeitgemäße Anknüpfung an unsere heutige Familien-, Gemeinde- und Kirchenwelt lässt uns mit dem Kopf nicken.

    Wer hätte das gedacht. Die „alte Geschichte“ ist – wer Ohren hat, zu hören … - tatsächlich absolut aktuell!

    Keine Abstriche. Eine anspruchsvolle, eine gute Predigt!

    AntwortenLöschen

Kommentar veröffentlichen

Beliebte Posts aus diesem Blog

Wir stehen im Morgen - Liedpredigt

„…s’ist leider Krieg – und ich begehre, nicht schuld daran zu sein!“

Fröhlich soll mein Herze springen