Was macht mich zum Ich?


Predigt zu Jesaja 49,1-6


Hört mir zu, ihr Inseln, und ihr Völker in der Ferne, merkt auf!
Der HERR hat mich berufen von Mutterleibe an;
er hat meines Namens gedacht, als ich noch im Schoß der Mutter war. Er hat meinen Mund wie ein scharfes Schwert gemacht,
mit dem Schatten seiner Hand hat er mich bedeckt.
Er hat mich zum spitzen Pfeil gemacht
und mich in seinem Köcher verwahrt.
Und er sprach zu mir: Du bist mein Knecht, Israel, durch den ich mich verherrlichen will.

Ich aber dachte, ich arbeitete vergeblich und verzehrte meine Kraft umsonst und unnütz.
Doch mein Recht ist bei dem HERRN und mein Lohn bei meinem Gott.

Und nun spricht der HERR, der mich von Mutterleib an zu seinem Knecht bereitet hat, dass ich Jakob zu ihm zurückbringen soll und Israel zu ihm gesammelt werde – und ich bin vor dem HERRN wert geachtet und mein Gott ist meine Stärke –, er spricht: Es ist zu wenig, dass du mein Knecht bist, die Stämme Jakobs aufzurichten und die Zerstreuten Israels wiederzubringen, sondern ich habe dich auch zum Licht der Völker gemacht, dass mein Heil reiche bis an die Enden der Erde.


Liebe Gemeinde, wer bin ich und wie bin ich der geworden, der ich bin? Was bestimmt mich und mein Ich?

Im November 1999 erhielt eine serbische Schriftstellerin (Biljana Srbljanovic) deren Namen ich nicht aussprechen kann, den Ernst-Toller-Preis – einen Literaturpreis der verliehen wird für herausragende Leistungen im Grenzbereich von Literatur und Politik.  Diese Schriftstellerin hielt aus diesem Anlass eine Dankesrede unter der Überschrift: „Warum ich nicht ich bin“ (Die Zeit, 10.12.99).

Was sie damals vortrug, ist beispielhaft nicht nur für Zeiten des Krieges, sondern auch für Zeiten des drohenden Zerfalls einer Gesellschaft, in der es starke Kräfte gibt, die die Vielfalt von Kulturen, Religionen und Orientierungen nicht zu schätzen weiß.

„Ich bin ein Mensch, dem man die Identität gestohlen hat“, sagt sie gleich im ersten Satz. Ich bin eine Frau, im mittleren Alter, bin eine Einwohnerin Europas, aber da fangen die Schwierigkeiten schon an. „Ich bin ein Mensch ohne nationale Zugehörigkeit, Einwohnerin eines Staates, der droht, ethnisch sauber zu werden. Gott, der mir durch meine Geburt zugewiesen wurde, ist nicht gerade die mir am nächsten stehende Person auf der Welt, wir haben keine besonders guten Beziehungen zueinander, aber wir bemühen uns auch gar nicht darum, weder ich noch er“. Der Krieg, das Elend um mich tötet mich auf Raten. Als Frau lebe ich in einer Welt von Generälen, von Geschäftsträgern und Ministern, und da gehöre ich nicht hin. „Meine Identität hat mir jemand geraubt und mir nur ein Gesicht, eine Physiognomie, eine Grimasse zugestanden. Wie in einem kubistischen Bild ist die eine Hälfte meines Gesichts die eines Kriegers und die andere die eines Opfers“. Aber ich möchte weder das eine noch das andere sein. Ich möchte nicht ständig über den Krieg, die Gewalt, den nationalen Hass schreiben. Aber ich bin davon umgeben. „Ich werde durch etwas bestimmt, was ich nicht bin, durch etwas, wogegen ich bin“. So wurde mir von der globalen und nationalen Politik meine Identität genommen. Ich stehe vor Ihnen und weiß nicht, wer ich bin.

Ich werde durch etwas bestimmt, was ich nicht bin, durch etwas, wogegen ich bin… Ich stehe vor Ihnen und weiß nicht wer ich bin - bewegende Worte. Damals war Krieg. Kosovo-Krieg.

Heute – und darum zitiere ich das – heute  erleben wir, wie die Aktivitäten einer rechten und radikalen Minderheit uns die Identität raubt und wir uns zunehmend beherrschen lassen von den Themen, die die anderen auf die Straßen bringen.

Als gäbe es gesellschaftlich und politisch keine anderen Themen mehr als Neonazis, AfD, Ausländerfeindlichkeit und Antisemitismus. Ich weiß nicht, ob sie die Statistik kennen: Das ZDF Politbarometer hat die Bürgerinnen und Bürger befragt, ob es in ihrer Gegen mit Flüchtlingen große Probleme gibt: 84% im Westen und 72 % im Osten unseres Landes sagen, dass es keine Problem gibt. Wobei im Osten dann noch 9% sagen, dass sie gar nichts mit Flüchtlingen zu tun haben, weil es bei ihnen gar keine gibt.

Aber seit Monaten wird das Thema zur „Mutter der Probleme“ aufgebauscht. Und wir sind, auch heute Morgen wieder, gezwungen, uns dazu zu verhalten.

Ich werde durch etwas bestimmt, was ich nicht bin, durch etwas, wogegen ich bin… Ich stehe vor Ihnen und weiß nicht wer ich bin -

II.
Vielleicht ist es an dieser Stelle gut, diese Erfahrung festzumachen an einer Erkenntnis, die ihr weit voraus in Philosophie, Theologie und Psychologie schon formuliert wurde: nämlich, dass ich meine Identität niemals aus mir selbst bestimmen kann.

Wer ich bin, das entscheidet sich immer vom Anderen her. Erst in der Begegnung mit dem Anderen werde ich mir meiner selbst bewusst. Erst in der Erfahrung der Wirklichkeit werde ich zum Subjekt, zum Ich.

Dabei mögen es gerade die Anderen sein, die nicht wollen, dass ich zum Ich werde, oder es sind Erfahrungen einer zerstörerischen oder unfassbaren Wirklichkeit, die mir meine Identität raubt.

In diesen Situationen, wo ich mit meiner Identität, wo ich selber auf dem Spiel stehe, wo die Lebensumstände oder die Herausforderungen und das Bedrängen der Anderen mich hart angehen, da wird es gewiss ein Unterschied sein, ob einem der – wie die Schriftstellerin sagt: „durch Geburt zugewiesene Gott“ - als „Person“ nahesteht oder nicht mehr ist als ein Puzzleteil kultureller Übereinkunft.

III.
Damit sind wir aber schon dicht an den Erfahrungen des Propheten.

Für ihn ist es der überwältigende Zugriff Gottes, der seine Identität bestimmt.

Er ist berufen von Mutterleibe an, ausgewählt, beim Namen gerufen, ist Mund eines Anderen und Pfeil in einem verborgenen Köcher, ist Knecht Gottes.

Was auf den ersten Blick vielleicht wie eine Demütigung und Instrumentalisierung klingt, ist weit mehr: Verherrlichung Gottes, Aufrichtung der Stämme Jakobs, Sammlung der Zerstreuten, Heil bis an die Enden der Erde.

Worauf ich hinaus will: Der Prophet lässt seine Identität nicht bestimmen von der negativen Wirklichkeit der Unterdrückung, in der er lebt, sondern von der Perspektive Gottes für sein Volk:

Eine Perspektive, die ihn aus der provinziellen Bedeutungslosigkeit herausführt, die fernen Inseln und Länder in den Blick nimmt und sein Volk zum Licht der Heiden macht.

Eine Vision, die die Wirklichkeit nicht ignoriert, denken Sie nur daran, dass er von der Vergeblichkeit und Mühsal spricht…, die die Wirklichkeit nicht ignoriert, sie aber aufhebt in einer Vision, die die Wirklichkeit verändert.

Der Prophet sieht sein Volk, gefangen in der Gefangenschaft Babylons in die Freiheit ziehen. Im Himmel ist schon alles in Bewegung, der Auftrag zum Bau der Prozessionsstraße ist erteilt. Ein neuer Auszug steht bevor, noch größer und noch herrlicher, als es der erste Auszug aus Ägypten war. Die ganze Natur wird an den Wundern dieses Heilsgeschehens teilnehmen, die Berge jauchzen und die Bäume klatschen in die Hände. Gott selbst geleitet sein Volk, ewige Freude wird über ihrem Haupte sein. Und die Völker werden es sehen, was da geschieht.

Was der Prophet vor Augen stellt ist irreal, da mag der ein oder andere vielleicht sagen: So ein Armleuchter, weiß der denn nicht, dass die Welt ganz anders ist… und doch ist es zugleich eine verlockende Möglichkeit gelingenden Lebens.

Sie lebt aus den Bildern, mit denen sie gemalt ist. Aus ihnen gewinnt sie ihre verändernde Kraft. Knechte Gottes sind dazu da, der Wirklichkeit einen Spiegel vorzuhalten, der sie entlarvt und neue Möglichkeiten des Lebens weckt.

Das gilt für unser politisches und soziales Handeln ebenso wie für die Seelsorge. Die Perspektive Gottes aufzuzeigen, darum geht es.

Der „Knecht Gottes“ lehrt uns, sich von der Wirklichkeit Gottes bestimmen zu lassen.

Diese Wirklichkeit verhält sich kritisch zu unserer vorfindlichen Wirklichkeit. Sie findet sich nicht ab mit Unfreiheit, mit Ungerechtigkeit, mit Diskriminierung, mit Gewalt, mit Tod. Sie dringt darauf, unsere engen Grenzen zu überschreiten.

IV.
Wir wissen nichts über die Identität dieses Gottesknechtes. Die Ausleger sind uneins, von wem die Rede ist: Israel selbst, vom Propheten, von einem dritten, von einer kommenden messianischen Gestalt, möglicherweise also von Jesus Christus...

Einige Ausleger stellen die These auf, dass bewusst die Person des Knechtes verborgen bleibt. Sie wird so zu einem Spiegel, in dem wir unsere eigene Person erkennen und befragen können.

Dieser Gottesknecht würde uns dann die Frage vorlegen, von welchem Anderen wir uns bestimmen lassen. Was unsere Identität ausmacht. Wessen Knechte wir sind und worin wir unsere Freiheit finden.

Christliche Tradition hat Jesu Leben, Sterben und Auferstehen wie eine Nacherzählung von Jesaja 49 verstanden: Die Berufung von Mutterleibe an, die unvergleichliche Identität seines Namens. Sein Mund, der das Wort dessen spricht, der ihn gesandt hat. Er, der nicht nur die Sammlung der Zerstreuten Israels und Aufrichtung der Stämme Jakobs zum Ziel hatte, sondern, zuerst zögernd, aber dann doch bewusst die Grenze zu den Völkern überschritt, Heil bis an die Enden der Erde.

Zumindest und zuletzt der Auferstandene, dem alle Macht im Himmel und auf Erden gegeben ist, kennt keine Grenzen des Heiles mehr: „Ich habe dich zum Licht der Heiden gemacht.“

Ein Heil, das die Menschen zu sich selbst bringt und ihren ureigensten Möglichkeiten. Jesus, der Knecht Gottes, der Gott so zu den Menschen bringt, dass die Menschen ihre Freiheit wiedergewinnen, Gottes Ebenbild zu werden und zu sein.

Ich kann dem Anderen gut sein, weil Gott zu mir gut ist. Unter Gottes Augen Subjekt werden, meine Identität gewinnen, das ist die Weise des Licht- und Heilbringers Jesus und aller derer, die sich davon bestimmen lassen.

„Sage mir, mir mit wem du umgehst und ich sage dir, wer du bist“ – Vielleicht sollten wir unseren Umgang sorgfältiger bestimmen. Das Niederziehende, das Zerstörende stellt sich fast von selbst ein. Um die Leitbilder, die mich aufrichten und zu Freiheit und zum Selbstsein verhelfen, werde ich mich mühen müssen.

Im Knecht Gottes finde ich ein solches Leitbild: Da ist einer, der hört, wenn Gott ihn mit Namen ruft. Einer, der die Stimme der Freiheit hört und handelt, der die Herausforderung zum Unmöglichen annimmt, weil er nicht allein dabei ist. Da ist einer, der Licht für die Völker ist, ihre Befreiung liegt ihm am Herzen: das Vermögen, ein klares Selbstbild zu entwickeln und sich zugleich einzufühlen in das Denken und den Glauben anderer. In seiner Gemeinschaft will ich mich bewegen, auf ihn hin möchte ich wachsen, ich und du, als Gemeinschaft derer, die sich selbst finden im dem absolut Anderen, dem Knecht Gottes.

Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

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