Was würde Jesus dazu sagen?

Predigt zu Hebräer 13,7-8 
anlässlich des 125. Todestages von Martin Niemöller


Liebe Gemeinde,

der Hebräerbrief hat im Blick, dass Glaube eine Geschichte hat. Keine abstrakte, sondern eine, die immer Lebensgeschichte ist. Lebensgeschichte von Menschen, die geglaubt haben. Von der Wolke der Zeugen spricht der Hebräerbrief, wir haben das in der Lesung gerade gehört.

In den letzten Ermahnungen, im 13. Kapitel heißt es dann: „Gedenket Eurer Lehrer, die euch das Wort Gottes gesagt haben; ihr Ende schaut an und folgt ihrem Glauben nach. Jesus Christus gestern und heute und derselbe auch in Ewigkeit.“

Ich nehme dieses Bibelwort gerne als Ausgangspunkt meiner Erinnerung und Auseinandersetzung mit Martin Niemöller.

Dass wir die nicht vergessen sollen, die durch Wort und Tat uns den Glauben bezeugt haben, ist das eine: Martin Niemöller, an den ich heute erinnern möchte, ist für mich und viele Menschen so einer.

Mich hat in meinem Christwerden und Christsein diese Biografie eines Mannes, der unerschrocken Hitler die Stirn bot und dafür als dessen persönlicher Gefangener 8 Jahre in Haft gehalten wurde, fasziniert. Wie mich auch die Haltung eines Dietrich-Bonhoeffer beeindruckte oder die des Hunsrücker Pfarrers Paul Schneider, der mir als Trierer natürlich sehr nahe war.

Menschen, die um des Glaubens willen ihr Leben riskierten… „Das Blut der Märtyrer ist der Same der Kirche…“, der Ausspruch des Kirchenvaters Tertullian hat sein Recht: Ich glaube, wir brauchen im Glauben Vorbilder und Identifikationsfiguren, Menschen, die den Glauben überzeugend leben, weil bei ihnen Wort und Leben eines sind. Menschen, die – vielleicht mit zagender Stimme und zitternden Knie und dennoch frei selbst den Mächtigen sagen, was sie um Christi willen zu sagen haben.

Bei Niemöller gibt es dazu eine Schlüsselszene: Im Zuge der Bemühungen des nationalsozialistischen Staates, Zugriff auf die Evangelische Kirche zu erlangen, war Niemöller unter anderem mit der Gründung des Pfarrernotbundes und seiner klaren Positionierung für die Freiheit der Kirche rasch einer geworden, der im deutschen Protestantismus Stimme und Gewicht hatte. Es wird kolportiert, dass sonntagsmorgens die S-Bahn nach Berlin-Dahlem raus, wo Niemöller predigte, regelmäßig überfüllt war. Manchmal sagte der Schaffner am Thielplatz: „Zur Predigt von Pastor Niemöller hier aussteigen!“

Diese Bekanntheit brachte es mit sich, dass Niemöller mit anderen führenden Köpfen der Evangelischen Kirchen am 16. Februar 1934 zu Hitler in die Reichskanzlei einbestellt wurde. Im Gespräch sagte Hitler sinngemäß: „Kümmern Sie sich um die Kirche, aber die Sorge um das deutsche Volk lassen sie mir!“

Bei der Verabschiedung kam Niemöller darauf zu sprechen: „Herr Reichskanzler, Sie haben vorhin gesagt: ‚Die Sorge um das deutsche Volk, die überlassen sie mir‘… Aber die Verantwortung für das deutsche Volk, die können wir nicht weggenommen bekommen, die hat Gott uns auferlegt, und kein anderer als Gott kann sie von uns wegnehmen – auch Sie nicht.“ Daraufhin zog Hitler seine Hand zurück und verließ den Raum.

Am 1. Juli 1937 wurde Niemöller verhaftet. Die Anklage konzentrierte sich auf juristisch-staatspolitische Aspekte und warf Niemöller vor, dass er in Predigten und Vorträgen „in einer den öffentlichen Frieden gefährdenden Weise“ Maßnahmen der Regierung kritisiert und „gehässige und hetzerische Äußerungen“ über einzelne Personen der Führung des Staates getan habe.

Doch die Anklage stand auf dünnem Eis. Niemöller verstand es, sich zu verteidigen: unter Hinweis auf seine Nationalkonservative Gesinnung – er war schon seit 1924 NSDAP Wähler; in Verwendung von Hitlers früheren Äußerungen zur Freiheit der Kirche – er führte also den Führer selber an; ja auch im Hinweis darauf, dass die Juden ihm „unsympathisch und fremd seien“, ergänzte diese Aussage aber durch den Hinweis darauf , „dass es der Kirche verwehrt sei, die Taufe durch den Stammbaum auszuwechseln“ und „Gott nach unserem Bilde, dem arischen Bilde, zu formen“. Dass er später im Verhältnis zu den Juden zu anderen Positionen fand, hat nicht zuletzt etwas mit dem Einfluss von Dietrich Bonhoeffer und Karl Barth zu tun.

Es erfolgte schließlich ein Urteil, das sich in Teilen wie eine Ehrenerklärung liest. Die darin verhängte Festungshaft – die nur verhängt wurde, wenn der Täter aus ehrenhaften Motiven gehandelt hat – galt mit der Untersuchungshaft als abgesessen. Niemöller hätte das Gericht als freier Mann verlassen können.

Stattdessen wurde er auf persönlichen Befehl Hitlers ohne Begründung erneut inhaftiert und dann ins KZ Sachsenhausen verlegt, wo er 3 Jahre in Isolationshaft gehalten wurde, bis er 1941 nach Dachau kam.

Gedenk Eurer Lehrer… sich solcher Menschen, die einen Eindruck auf uns im Christwerden und Christsein gemacht haben, zu erinnern, das ist das eine.

II.
Das andere aber ist das „Jesus Christus gestern und heute und derselbe auch in Ewigkeit“.

Wer sich mit Martin Niemöller befasst, lernt schnell, dass bei allen Wendungen, die er in seinem Leben machte, und davon gab es einige, es doch nur ein Kontinuum gab, nur einen roten Faden: Der Glaube an Jesus Christus und das Bekenntnis zu ihm.

Nach 1945 erklärte Niemöller mehrfach, der einzige Glaubenssatz, den er als Dogma für sich anerkenne, sei die Erste These der Barmer Theologischen Erklärung: „Jesus Christus, wie er uns in der Heiligen Schrift bezeugt wird, ist das ein Wort Gottes, das wir zu hören, dem wir im Leben und im Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben.“

Niemöller, der im ersten Weltkrieg bei der Marine als U-Boot-Kommandant Soldat war, hatte durchaus einen Begriff von Gehorsam. Diesen soldatischen Gehorsam aber bezog er spätestens seit der Bekenntnissynode von Barmen konsequent und exklusiv auf Jesus Christus. Ihm und nur ihm allein gilt es zu gehorchen… und koste es das eigene Leben.

Sich in diesem Gehorsam zu wissen, diesem Herrn zu dienen, das macht frei von aller Furcht gegenüber Mächten und Gewalten.
Was gilt, ist nicht die Furcht, sondern einzig die Frage, was aus dem Gehorsam gegenüber Jesus Christus in der je vorfindlichen Situation zu tun oder zu lassen ist: „Was würde Jesus tun? Was würde Jesus dazu sagen.“

Jede Biografie hat ihre eigenen Bilder. Niemöller erzählte gerne, wie er als kleines Kind – er war als Sohn eines Pfarrers in Lippstadt geboren… Der Vater erkannte mit den Theologen Friedrich Naumann und Adolf Stücker die soziale Frage als eine geistliche Frage. Das veranlasste ihn, in eine Pfarrstelle nach Elberfeld ins Arbeiterviertel zu wechseln und sich um die Arbeiter dort zu kümmern.

Niemöller erzählt, wie er den Vater zu einem sterbenden Weber begleitet. Und während der Vater am Bett mit dem Sterbenden betete, saß der Junge in der Stube auf dem Stuhl und sein Blick fiel auf ein gesticktes Bild, auf dem stand: „Was würde Jesus dazu sagen?“

In seinen letzten Lebensjahren resümierte Niemöller: „Ich bin in punkto christlicher Ethik heute nicht schlauer als damals…“

Das Bekenntnis zu Jesus Christus als alleinigem Herrn der Kirche und des eigenen Lebens, ja, das ist der rote Faden: Jesus Christus, gestern, heute und derselbe auch in Ewigkeit.

III.
Aber weil das gestern nicht das heute ist und die Ewigkeit nicht das jetzt, darum ist die Antwort auf die Frage, was Jesus heute sagen würde, durchaus nicht dieselbe.

Martin Niemöller, so habe ich seine Biografie gelesen, hat immer wieder neu Antworten auf die Frage ganz konkret in der jeweiligen Zeit, in der er lebte, und den Umständen, mit denen er zu tun hatte, gesucht.

Das Evangelium, das war seine Grundüberzeugung, muss hineingesprochen werden in die jeweils konkrete Situation.

Die Botschaft von der in Christus verbürgten Liebe Gottes wird in jeder Situation andere Gestalt gewinnen. Es gibt von daher keinen christlichen Standpunkt, keine Position, die nicht hinterfragt werden müsste oder geändert werden könnte.

Und immer wieder hält uns das Evangelium einen Spiegel vor, der uns eigene Irrtümer und falsche Wege erkennen lässt.

Man kann solch eine Wandlung beispielsweise nachzeichnen in Niemöllers Bezug zum Militärischen:
1910 trat Niemöller in die Marine ein, schlug die Offizierslaufbahn ein. Im ersten Weltkrieg war er schließlich und mit Begeisterung U Boot Kommandant. Nationalistisch, soldatisch, kampferprobt – und dabei christlich. Denn mit vielen anderen Protestanten kämpfte er für Gott, Volk und Vaterland, fühlte sich dem protestantischen deutschen Kaiser verpflichtet und ergeben.

Seine anfängliche Affinität zum Nationalsozialismus gründete in dieser nationalkonservativen Haltung, die mit der neuen Demokratie so gar nichts anzufangen wusste. Dem Wiedererstarken auch des Militärischen stand er offen gegenüber, denn die Demütigung von Versailles und die Dolchstoßlegende gehörten zu seinen Denkmustern.

Ganz anders dann aber der Niemöller nach der Erfahrung des Nationalsozialismus und des Krieges. Von seiner Zeit als U-Boot-Kommandant konnte er weiter schwärmen und hielt die Erinnerung daran persönliche gerne fest. Aber als sich unter Adenauer die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik anbahnte, da sah er darin die Gefahr der Verfestigung der Deutschen Teilung und wurde aus diesem Grund zum praktischen Pazifisten.

Es taugt nicht, wenn man anfängt, militärisch aufzurüsten und gleichzeitig an der Wiedervereinigung festhalten will. Er sah voraus, dass das nur die entsprechende Gegenreaktion auf der anderen Seite hervorrufen würde und man zu einem Wettrüsten kommen würde. Also aus praktischen Gründen: Pazifist!

Radikal wurde sein Pazifismus, als die USA 1952 die erste Wasserstoffbombe zündeten und die Sowjetunion ein Jahr später nachzog. Niemöller ließ sich mit anderen EKD Führern 1954 von den Physikern Werner Heisenberg, Carl Friedrich von Weizsäcker und Otto Hahn informieren.

Hahn sagte, für die Wissenschaft ist es kein Problem mehr, einen Apparat zu konstruieren, mit dem man alle Lebewesen auf der Oberfläche dieses Planeten verschwinden oder sterben lassen kann.
Niemöller fragte Hahn: „Herr Hahn, was wäre passiert, wenn Adolf Hitler so einen Apparat gehabt hätte?

Hahn antwortete nicht, Weizsäcker guckte auf die Seite und Heisenberg sagte, „ach, Herr Pastor, dann brauchten wir uns darüber den Kopf nicht mehr zu zerbrechen“.

Für Niemöller war das der Punkt, an dem er Pazifist wurde, und zwar aus theologischen Gründen, nicht aus politischen Gründen: „Es geht hier zunächst gar nicht um Krieg und Frieden…“, schrieb Niemöller. „Die politische Frage lässt mich vollkommen kalt. Sondern die Frage heißt… Haben wir Menschen eigentlich das Recht, Dinge zu tun und uns mit Dingen abzugeben, die dem Schöpfer das Zepter aus der Hand nehmen, in dem sie das, was er geschaffen hat, vernichten, nämlich das Leben? Das ist eine religiöse, das ist eine dogmatische, das ist eine Frage der Verkündigung.“ Und er ergänzte: „Ich bin seit 1954 theologisch etwas anderes, als was ich vorher war.“

IV.
Liebe Gemeinde, der Glaube, wenn er denn nicht bloßer Dogmatismus ist, sondern Glaube, der sich auf die Erfahrung des Lebens bezieht, dann stellt der Glaube unsere Überzeugungen immer wieder neu in Frage, nötigt uns immer wieder dazu, für diese Gegenwart Antworten auf die Frage zu suchen: „Was würde Jesus dazu sagen?“

Dieser Glaube überführt uns auch der eigenen Schuld und des eigenen Versagens. Niemöller schuf sich im Umgang mit der Frage der Schuld, der persönlichen, der der Kirche, der der Gesellschaft, viele Feinde.

Denn er war einer der wenigen, die nach dem Krieg als Bußprediger durchs Land zogen, und die Menschen an ihre persönliche Schuld und ihr persönliches Versagen erinnerte, indem er an seine persönliche Schuld und sein Versagen erinnerte:

„Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Kommunist. Als sie die Sozialdemokraten einsperrten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Sozialdemokrat. Als sie die Gewerkschafter holten, habe ich geschwiegen; ich war je kein Gewerkschafter. Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte“.

Dabei war er weit davon entfernt, von einer Kollektivschuld der Deutschen zu reden. Erst recht auf internationalem Parkett. international: Niemöller, einer der großen Ökumeniker, war einer der ersten Deutschen, die zu Reden und Vorträgen ins Ausland eingeladen wurden. Wo immer möglich wies er Kollektivschuld-Theorien zurück, hielt Plädoyers für die Einheit Deutschlands, wies auf das Flüchtlingselend der vertriebenen Deutschen hin. Aber in Deutschland selbst hielt der seinen Hörerinnen und Hörern im Bekenntnis seiner eigenen Schuld den Spiegel vor und mahnte sie, mit den Fragen der Gegenwart im Sinne Jesu umzugehen, damit sich nicht wiederholen kann, was schon einmal geschah..

Eine Frage der Gegenwart war das Flüchtlingsproblem: Es ist ja nicht so, als wäre die damalige westdeutsche Gesellschaft, gewiss auch in ihrer eigenen Not, willig und offen gewesen, die Fülle an Flüchtlingen aufzunehmen, die ins Land strömten. Niemöllers Appelle lesen sich, als wären sie heute geschrieben:

"Wir versuchten, für das Flüchtlingsproblem eine billige Lösung zu finden,“- schreibt er 1949 -  „und jetzt zeigt uns Gott, dass es keinen anderen Ausweg gibt als unsere Bereitschaft, den vollen Preis zu zahlen und den Flüchtling als unseren Bruder zu akzeptieren. Wir versuchten, mit ihnen wie mit Bürgern zweiter Klasse umzugehen, aber jetzt erkennen wir, dass es keine Lösung gibt, bis wir sie wie jeden anderen anständigen Bürger ansehen und für sie zahlen".

V.
Liebe Gemeinde,
„Gedenket Eurer Lehrer, die euch das Wort Gottes gesagt haben; ihr Ende schaut an und folgt ihrem Glauben nach. Jesus Christus gestern und heute und derselbe auch in Ewigkeit.“

Das Gedenken an Martin Niemöller als Lehrer der Kirche - Schlaglichter nur. Mag sein, dass meine Schlaglichter dem ein oder anderen zu undifferenziert, zu wenig problematisierend, zu verklärend erscheinen.

Aber was doch bleiben würde, selbst bei ganz anderer Bewertung, ist doch dies, dass Niemöller uns sehr konsequent die Frage mit auf den Weg gibt: „Was würde Jesus dazu sagen?“

Eine Frage, die – und das ist meine Überzeugung – eine Frage, die uns in diesen Tagen nicht nur in der Frömmigkeit bewegen soll, sondern aus Frömmigkeit heraus zwingen zu einer politischen Frage wird.

Wir erleben eine Politik, in der sich Herrscher erheben und per Dekret regieren, Grundrechte einschränken, Menschen und ganze Nationen einzuschüchtern versuchen. Wir erleben eine Politik, in der die Rhetorik aus Hitlers „Mein Kampf“ stammen könnte und die ersten Taten des amerikanischen Präsidenten keinen Anlass geben, anzunehmen, dass er nicht bereit ist, den Worten Taten folgen zu lassen.

Wir erleben das Zusammenrotten nationalistischer Kräfte in Europa und die Verachtung und Diskriminierung von Menschen anderer Kultur, anderer Religion und Weltanschauung, anderer sexueller Orientierung.

Immer lauter, immer unverhohlener und mit immer größerem Erfolg.

Liebe Gemeinde, ja ich glaube, dass wir in Zeiten leben, in denen unser Zeugnis in der Nachfolge Jesu Christi wieder einmal zum politischen Bekenntnis werden muss, zwangsläufig, nicht weil wir es wollen, sondern weil wir es müssen, um Jesu Christi willen: Er ist derselbe, gestern, heute, und in Ewigkeit. Amen.

[Alle in der Predigt verwendeten Zitate Niemöllers sind der Biografie von Michael Heymel entnommen: Michael Heymel, Martin Niemöller. Vom Marineoffizier zum Friedenskämpfer, Darmstadt 2017]

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