Glauben in Geschichte

Predigt zu 5. Mose 6,4-9anlässlich der Goldkonfirmation 2011 in der Johanneskirche


Liebe Gemeinde,

je älter ich werde, desto mehr lerne ich das Staunen im Glauben.

Ähnlich der verblüfften Frage des Beters aus dem 8. Psalm: „Was ist der Mensch, dass du, Gott, seiner gedenkst, und des Menschen Kind, dass du dich seiner annimmst.“

Denn je älter ich werde, desto mehr wird Weltgeschichte zur eigenen Lebenserfahrung:

Ich stand in den 80er Jahren einmal am Bett einer sterbenden Frau, die aus Ostberlin stammte, und mir im Sterben ihre Hoffnung erzählte, dass die Mauer  verschwinden würde und Deutschland wieder ein Land sein würde. Ich wollte der alten Frau nicht widersprechen, glaubte aber kein Wort. Wenige Jahre später geschah, was ich seinerzeit nicht für möglich hielt, die Mauer fiel.

Gebaut wurde sie am 13. August 1961, wenige Monate nachdem unsere Goldkonfirmandinnen und Konfirmanden hier in der Johanneskirche konfirmiert wurden.

Ein bewegtes Jahr, war das: Der kalte Krieg in vollem Gange. Die Russen schockten Amerika mit dem ersten bemannten Weltraumflug, wenige Tage vor dem amerikanischen.

Gott habe er da oben nicht gefunden – meinte Juri Gagarin.

Und doch bleibt hier unten die Frage nach ihm lebendig, gerade angesichts der erlebten Geschichte.

Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst?

Wie kann es sein, dass in dieser ganzen unendlichen Weite aus Zeit und Raum ein Gott ist, der sich meiner annimmt, eine Kraft, die mich stärkt, eine Liebe, die mich meint.

Und was macht das mit mir, wenn ich mir dies vergegenwärtige: Dass Ich gemeint bin.

II.
Liebe Gemeinde,
das Volk Israel seinerseits hat immer wieder ähnlich zu staunen gehabt.

Es war sich wohl bewusst, wie klein, gering und provinziell es war im Vergleich zu den großen Mächten der damaligen Welt und lebte doch in dem Bewusstsein, das von Gott erwählte Volk zu sein, jenes Volk, mit dem Gott seine Geschichte schreiben wollten, gerade weil es so klein, gering und provinziell war.

Und es hat seinerseits immer wieder danach gefragt, wie es diesem Gott antworten, wie es vor ihm leben, wie es seiner Erwählung entsprechen sollte.

Ich lese aus dem 5. Buch Mose, dem 6 Kapitel jene Antwort, die als das Glaubensbekenntnis Israels gilt: „Schema Israel, Adonaj elohenu, adonai ächad“:

Höre, Israel, der HERR ist unser Gott, der HERR allein.

Und du sollst den HERRN, deinen Gott, liebhaben mit deinem ganzen Herzen, mit deiner ganzen Seele und mit deiner ganzen Kraft.

Und diese Worte, die ich dir heute gebiete, sollst du zu Herzen nehmen und sollst sie deinen Kindern einschärften und davon reden, wenn du in deinem Hause sitzt und wenn du auf deinem Wege gehst, wenn du dich niederlegst und wenn du aufstehst.

Binde sie zum Zeichen auf deine Hand und als Erinnerungszeichen zwischen deine Augen.

Schreibe sie auf die Pfosten deines Hauses und an die Tore.

Auf die Erfahrung der Erwählung, liebe Gemeinde, kannte Israel nur eine überzeugende Antwort: „Du sollst Gott lieben“.

Liebe als Antwort auf die Liebe, mit der ich geliebt werde von dem einen und einzigen.

Nicht Gehorsam, nicht Opfer, nicht Gesetz zuerst, sondern „Liebe“.

Liebe – das Hebräische trifft genauso wie das Deutsche keine Unterscheidung zwischen Liebe zu Gott und Liebe unter Menschen: Nächstenliebe, Selbstliebe, erotische, körperliche Liebe.

Liebe ist Liebe: sinnlich, zärtlich, eifernd.

In unserer kopflastigen protestantischen Tradition freut es mich, dass die Bibel und die Tradition das Verhältnis zwischen Mensch und Gott durchaus ganz sinnlich beschreiben kann.

„Liebe“ - gibt es ein sinnlicheres Wort, wenn wir es nicht entleeren.

Liebe, da prickelt es auf der Haut, da klopft das Herz, da ist Phantasie und Leidenschaft im Spiel.

Sehnsucht, wie im Hohenlied der Liebe: „Des Nachts auf meinem Lager suchte ich, den meine Seele liebt. Ich suchte, aber ich fand ihn nicht. Ich will aufstehen und in der Stadt umhergehen auf den Gassen und Straßen und suchen, den meine Seele liebt. Ich suchte, aber ich fand ihn nicht. Es fanden mich die Wächter, die in der Stadt umhergehen: „Habt ihr nicht gesehen, den meine Seele liebt?“ Als ich ein wenig an ihnen vorüber war, fand ich, den meine Seele liebt. Ich hielt ihn und ließ ihn nicht los…“

Frühere Zeiten haben in diesem Liebeslied eine Allegorie, ein Gleichnis auf die Liebe zwischen Mensch und Gott gesehen: So kann die Sehnsucht sein nach dem Gott, der sich verborgen hält. So stark die Suche auf den Gassen unseres Leben nach dem einen, der der einzige ist, unteilbar, exklusiv, neben dem es keinen anderen gibt.

Mag sein, dass Ihnen aus Ihrer Lebenserfahrung die Gottesliebe erst einmal fremd ist. Aber vielleicht kennen Sie sie doch mehr als sie ahnen – als Sehnsucht, als Hoffnung, als Herzenswunsch.

Kennen vielleicht doch diese Schwestern der Liebe aus den Lebenssituationen, in denen sie gelitten haben unter der Verborgenheit Gottes? Wo bist Du Gott, im Leid, das mir oder einem von mir geliebten Menschen widerfährt?

Wo sie sich seinen Zuspruch, seine Hilfe, seine Liebe leibhaftig erfahrbar gewünscht hätten.

Worauf ich hinaus will: Unser Predigttext macht den Glauben nicht zu einer Sache des Kopfes allein, sondern des Herzens, der Seele und der Kraft.

Und damit zu einer Sache, die mich umfasst in meiner ganzen Person, meinen ganzen Lebensbezügen, von Kopf bis Fuß, mit Leib und Seele. Gefühle wie Dankbarkeit, Glück, Freude gehören zu ihm, dem Glauben,  wie zu mir als Person.

Mag sein, dass ich es nicht immer Glauben nennen würde, aber heute, im Nachdenken, lasst uns entdecken, dass sie hineingehören in das, was wir Glauben nennen würden.

Vielleicht sind wir und waren wir dem Glauben in unserem Leben näher, als wir selbst es gedacht haben.

III.
Ist das nicht gefährlich, soviel Emotionen, erst recht, wenn sie verbunden werden mit dem Anspruch der Einmaligkeit und Einzigartigkeit Gottes?

Klopft da nicht der Fundamentalismus an die Tür unseres Herzens?

Die Bibel kennt die Gefahr.

Sie hat in sich auch Geschichten aufbewahrt, die solche Fundamentalismen zu Vorschein kommen lassen.

Vielleicht hat die biblische Überlieferung deshalb die Gottesliebe nicht isoliert stehen lassen. Wenn Jesus auf die Frage, was das Höchste Gebot sei, antwortet: „Du sollst den Herrn deinen Gott lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und von allen deinen Kräften. Das andere ist dies „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ (Mk 12,28-31), dann bindet er die Gottesliebe an die Liebe zum Menschen.

Eine Liebe zu Gott ohne eine Liebe zu den Menschen kann es nicht geben, weil Gott selbst die Menschen liebt.

IV.
Damit aber sind wir nun vollkommen angekommen inmitten unserer Geschichte. Wird deutlich, dass Glaube keine abstrakte Lebenshaltung ist, losgelöst von dem konkret zu lebenden Leben, keine Utopie, die keinen Ort mehr kennt in Zeit und Raum, sondern bezogen ist auf dieses Leben, die Geschichte in der ich lebe und die Menschen, mit denen ich lebe.

Darum ist Glaube auch keine religiöse Sonntagspraxis, sondern eine Lebenshaltung, die den ganzen Alltag durchzieht:

Und diese Worte, die ich dir heute gebiete, sollst du zu Herzen nehmen und sollst sie deinen Kindern einschärften und davon reden, wenn du in deinem Hause sitzt und wenn du auf deinem Wege gehst, wenn du dich niederlegst und wenn du aufstehst.

Binde sie zum Zeichen auf deine Hand und als Erinnerungszeichen zwischen deine Augen.

Schreibe sie auf die Pfosten deines Hauses und an die Tore.

Aus dem Text sind konkrete Lebensvollzüge im Alltag frommer Juden erwachsen: Die Gebetsriemen, die Mesusa an der Tür einer jüdischen Wohnung und damit immer neu die Vergegenwärtigung der Beziehung zu Gott als Liebesgeschichte.

Sie ist eben keine Wochenendbeziehung, sondern eine, die gelebt werden will mit Haut und Haar, von Kopf bis Fuß, in meinem kleinen Alltag ebenso wie in der großen Weltgeschichte.

Was ist der Mensch, dass Du seiner gedenkst und des Menschen Kind, dass Du dich seiner annimmst?

Das Staunen bleibt. Und es ist gut so. Weil die Liebe immer im Staunen lebt. Wie wunderbar.


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