"Wenn dein Kind dich morgen fragt..." Melanchthon als Lehrer

„Wenn dein Kind dich morgen fragt…“

Liebe Gemeinde, die Frage ist die Grundsituation der Bildung:

Du hebst den heißen Deckel vom Topf und der Dampf steigt auf und dein Sohn, deine Tochter, dein Enkelkind fragt: „Warum kommt da Dampf raus…?“

Du gehst mit deinem Kind spazieren und es hebt ein Blatt auf, staunt über die Farben und fragt: „Wieso werden die Blätter eigentlich bunt?“

Du gehst über den Friedhof in diesen Tagen, ein schöner Spaziergang für die Kinder, und dann die Frage: „Warum müssen Menschen sterben?“

Wieso, weshalb, warum?

Weil Kinder wissen wollen, warum etwas ist und warum es so ist, wie es ist, darum ist Lernen-Wollen ein Wesenszug des Menschen.

Kinder wollen Lernen.

Und es hört nicht auf, wenn wir uns denn nicht abstumpfen und verblöden lassen. Lebenslanges Lernen ist ein Grundbedürfnis des Menschen.

Philipp Melanchthon, der Reformator, dessen 450. Todestag Anlass gibt, an ihn zu erinnern, Philipp Melanchthon jedenfalls war davon überzeugt, man kann vielleicht sogar sagen: Besessen.

Wenn Melanchthon-Forscher gestehen, sie wären in ihrem Leben nicht in der Lage, alle die Bücher zu lesen, die Melanchthon geschrieben hat, gewinnt man eine Phantasie von einem eifrigen Lehrer, der Antworten suchte auf die nie enden wollende Kette an Fragen, und kaum ein Wissensgebiet nicht befragte: Griechisch war sein Lehrfach, Theologie seine Leidenschaft, Mathematik, Physik hielt er für unentbehrlich, Pädagogik bekam mit ihm einen wissenschaftlichen Wert…

Kaum ein Fach, zu dem er nicht sachkundig zu schreiben wusste.

Als Luther, in Sorge um die professorale Verwahrlosung seines Freundes, ihm endlich eine Frau gesucht hatte und ihn unsanft zur Heirat bewogen hatte, da war Melanchthon darum zu tun, seine Freunde wissen zu lassen, seine Leidenschaft gelte auch weiterhin der Wissenschaft mehr als seiner Frau.

Und die Leidenschaft zu seiner Frau war dann doch immerhin so groß, dass dem Paar vier von Melanchthon sehr geliebte Kinder geboren wurden.

II.
Weil die Frage die Grundsituation des Lernens ist, darum wohl hat Melanchthon wie auch Luther die Familien als Ort der Bildung in den Blick genommen.

Die reformatorische Gattung der Katechismen zielt darauf, Eltern in die Lage zu versetzen, ihre Kinder zu lehren.

Nicht Luther, sondern Melanchthon stand an der Wiege dieser Gattung, als er eine Hausfibel, ein Handbüchlein zusammenstellte, „wie man die Kinder zu der geschrifft und lere halten soll“.

Seine Hausfibel diente ihm zunächst im Unterricht in seiner eigenen Privatschule, die er in Wittenberg in seinem Haus, unterhielt, fand dann durch einen Druck von 1523 lebhafte Verbreitung und wurde später durch Luthers kleinen Katechismus abgelöst.

Dieser wurde prägender:

„Ich bin der Herr, dein Gott.
Du sollst nicht andere Götter haben neben mir.

Was ist das?

Wir sollen Gott über alle Dinge fürchten, lieben und vertrauen.“

Im Spiel von Frage und Antwort gehalten, die Hauptstücke des Glaubens, „wie sie ein Hausvater seinem Gesinde einfältiglich furhalten soll“.

Familie als Ort der Bildung.

Zugleich aber betonte und arbeitete Melanchthon daran, Bildung als öffentliche Aufgabe ins Bewusstsein zu rücken und sich bei den Fürsten, bei den Städten und auch bei den Kirchen für die Gründung von Schulen einzusetzen.

„Kluge und gebildete Bürger bedeuteten für eine Stadt mehr als hohe Festungsmauern. Denn nicht mit Waffen, sondern mit Weisheit, Mäßigung und frommer Haltung wird eine Stadt am besten regiert und verteidigt“, war sein Argument.

Seine Priorität der Verwendung der finanziellen Mittel in den Haushalten war damit klar: Mehr Geld für Bildung und weniger für Waffen.

Klingt irgendwie so, als wäre es nicht gut 450 Jahre her.

III.
Gerade deshalb aber lohnt es sich, mit Melanchthon auf unsere Bildungssituation zu schauen.

Wir haben eine allgemeine Schulpflicht - Melanchthons Engagement führte konsequent in diese Richtung.

Wir haben ein Bewusstsein dafür, dass Bildung eine öffentliche Aufgabe ist. Wir fordern es lebhaft ein.

Und die Elternhäuser?

Liebe Gemeinde, eine Untersuchung der Konrad Adenauer Stiftung zeigt, welcher Druck auf Eltern heute lastet. Und das Gefühl, für die Bildung ihrer Kinder verantwortlich zu sein, ist darunter einer größten Faktoren.

Da spielt viel eine Rolle, dass Eltern meinen kompensieren zu müssen, was ihre Kinder in den Schulen nicht mehr lernen.

Der Bedarf an Nachhilfe ist enorm.

Der finanzielle Aufwand gigantisch und für viele Familien tief einschneidend und für andere – nicht für alle - der Grund, warum ihre Kinder keinen vernünftigen Schulabschluss machen.

Spricht man dann mit Lehrerinnen und Lehrern, dann merkt man, wie sehr sie ihrerseits unter Druck stehen, häufig auch dem Erwartungsdruck von Eltern, deren Kinder allzu oft schlecht vorbereitet in die Schule kommen.

Wie sehr sie es bemängeln, die Defizite der Elternhäuser ausbügeln zu müssen.

Und beide haben Recht.

Was also läuft schief?

IV.
Für Melanchthon war klar, dass Bildung mehr ist als bloße Wissensvermittlung.

Er war Humanist und darum davon überzeugt, dass Bildung den Menschen als Ganzes umfassen müsse.

Im Rückgriff auf die Antike, namentlich auf den römischen Rhetor und Staatsmann Marcus Tullius Cicero, betonten die Humanisten den Zusammenhang von sprachlicher, sittlicher und geistiger Bildung.

Erasmus von Rotterdam der „ungekrönte Humanistenkönig“ in der Zeitgenossenschaft von Luther und Melanchthon wollte den Menschen zum Menschen bilden, weil sich das Menschsein in seiner ganzen Fülle erst in der Bildung entfalte: „Menschen werden nicht als Menschen geboren, sondern als solche gebildet“, konnte er sagen. Erst in der Bildung kommt der Mensch zum vollen Menschsein.

Und darum darf Bildung niemanden vorenthalten werden. Erasmus forderte, dass jeder Bauer hinterm dem Pflug in die Lage versetzt werden sollte, die Bibel lesen zu können.

Bildung nicht bloß als Vermittlung von Kenntnissen und Fertigkeiten, sondern als Bildung der Persönlichkeit, das war auch Melanchthons Ideal.

Und darum gehörten für ihn das religiöse Lernen und die Vermittlung von Wissen immer zusammen. In seine theologischen Lehrbücher, eine Gattung, die sich bis dahin erging in spitzfindigen Fragestellungen ohne spirituellen Tiefgang, schrieb er Lehren über das Gebet: Beten, wie macht man das?

Frömmigkeit und Bildung gingen bei ihm Hand in Hand.

Ich glaube, dass unsere gegenwärtige Misere, die ich eben beschrieben habe - die Defizite der schulischen Bildung wie der Bildung im Elternhaus - damit zu tun haben, dass wir einem defizitären, weil bloß pragmatischen Bildungsbegriff unterjocht sind.

Bildung ist mehr als die bloße Wissensaneignung im Interesse der Ausübung eines späteren Berufes.

Wenn es Eltern heute wichtiger ist, dass ihre Kinder schon im Kindergarten Englisch lernen als ihnen die Zeit zu schenken, ihren Fragen zuzuhören, dann läuft was schief.

Und wenn Lehrerinnen und Lehrer klagen, dass Ihnen die Abarbeitung des Lehrplans so viel Druck bereitet, dass sie keine Zeit haben, sich anderen Fragen zu stellen, dann läuft was schief.

Wenn unsere Kinder so sehr unter Lern- und Hausaufgabendruck stehen, dass für eine Theater-AG oder ein außerschulisches Engagement in der Jugendarbeit zum Beispiel unserer Kirchengemeinde keine Luft mehr bleibt, dann läuft was schief.

Melanchthon jedenfalls plädierte für Lehrpläne, die Raum gewährten.

Zum Programm seiner eigenen Hausschule, sie wird als eine bunt zusammengesetzte Wohngemeinschaft beschrieben, gehörten tageszeitliche Gebete zur Unterbrechung und Besinnung, gehörte ein Haustheater, für das er selbst durchaus humorvolle Stücke schrieb, und gehörte auch ein richtiges Maß an Abwechslung, wie er es auch in zahlreiche Studienordnungen, an denen er mitwirkte, hinein schrieb, weil Abwechslung die Arbeit erleichtere und einen freien Kopf beschere.

V.
Das Bildungsideal Melanchthons, so will mir scheinen, dachte nicht bloß vom zu vermittelnden Gegenstand her, sondern vom Menschen, der ein Recht auf Bildung hat.

Lernen ist am erfolgreichsten dann, wenn es für den, der lernt, mit Sinn verbunden ist. Wenn ich weiß, warum ich etwas lerne, lerne ich am besten.

Darum war für Melanchthon wichtig, immer wieder die lebenspraktische Relevanz des Lernstoffes zu erschließen.

Da konnte er dann zum Beispiel die Dialektik als Kunst der Argumentation daran schulen, dass er den Schülern die Aufgabe gab, ihren Vater davon zu überzeugen, dass er sie und ihr Studium auch weiterhin finanziell unterstützen solle.

Auf solchen Wegen findet eine individuelle Aneignung des Lernstoffes statt. Dass ich merke, wie ich das Gelernte und wozu ich es anwenden kann.

Diesem Blick auf das Individuum trug Melanchthon auch in der Konzeption des Schulsystems Rechnung.

Es sah ein in der Regel dreigliedriges Schulsystem vor:

Eine Elementarschule, in der die grundlegenden Kulturtechniken wie Lesen, Schreiben und Rechnen sowie eine religiöse Grundbildung erfolgen sollte.

In der zweiten Stufe sollte eine Allgemeinbildung erworben werden.

Und in der dritten Stufe, der hohen Schule, erfolgte die Vorbereitung auf die Universität. Melanchthon gilt als Begründer des Gymnasiums als Schulform.

Das besondere an Melanchthons System: Er arbeitete nicht mit Jahrgangstufen. Ein jeder Schüler verblieb in der jeweiligen Stufe, bis er den entsprechenden Lernstand erreicht hatte. Dann konnte er in die nächst höhere Stufe wechseln.

Dieses Schulsystem trug also den individuellen Lerngeschwindigkeiten Rechnung, ohne den Makel des „Sitzenbleibens“.

An den Universitäten bekam jeder Student einen Mentor, der ein individuelles Studienprogramm mit dem Studenten erarbeitete und ihn im Studium begleitete.

Grammatik als eine Grundlagen des Lernens wurde an Melanchthons Universität so unterrichtet, dass jeder Student einen eigenen Lehrer hatte.

Dieser Blick auf den einzelnen und das, was er zum optimalen Lernen, zu seiner Bildung, nötig hat, das liegt in der Konsequenz eines Bildungsbegriffes, der die Bildung des Menschen als Ganzes und in seiner Individualität im Blick hat.

VI.
Dabei legte Melanchthon Wert auf Professionalität.

Er überlegte genau, welche Berufe an welcher Schule unterrichten sollten.

Und ihre Eignung wurde geprüft. Der Superintendent war dafür verantwortlich, zu prüfen, ob die Lehrenden denn auch zum Beispiel über die notwendigen Sprachkenntnisse verfügten.

Nun wusste Melanchthon aber auch, dass damit noch nicht viel gewonnen ist, wenn ein Lehrer seinen Stoff beherrscht. Er muss ihn auch vermitteln können.

Darum machte er sich viele Gedanken über die Didaktik des Lehrens, verfasste zahlreiche Lehrbücher, die einen neuen Standard setzen.

Zum Beispiel dadurch, dass Zwischenüberschriften, Register, Tabellen und Listen eingeführt wurden, die wir alle noch heute aus Lehrbüchern kennen.

Und Humor gehörte für ihn unabdingbar dazu.

Wie vermittelt man Schülern, was ein Trugschluss ist?

Eine Kostprobe:
Ein Trugschluss: Wer viel trinkt, schläft viel. Wer viel schläft, sündigt nicht. Wer nicht sündigt, wird selig werden.
Also, der Trugschluss: Wer viel trinkt, wird selig werden.

VI.
Fazit: Melanchthon, der Lehrer Deutschlands, wie der Rektor der Universität in Wittenberg, der Studienorganisator, der Lehrbuchverfasser, der pädagogisch versierte Professor, der Berater von Universitäten, Städten und Fürsten genannt wurde, der Lehrer Deutschland lehrt uns, noch einmal hinzuschauen, was wir unter Bildung verstehen.

Und sensibilisiert uns dafür, dass Bildung auch zu tun hat mit den tiefen Fragen des Lebens.

Weil ein jeder Mensch an diese Fragen stößt: „Wer bin ich?“, „Was ist Tod?“, „Was glauben andere?“, „Wie gehe ich mit Schuld um?“…
weil ein jeder Mensch an diese Fragen stößt, hat ein jeder Mensch Recht auf eine Bildung, die mehr ist als bloße Vermittlung von Lernstoff.

Jedes Kind hat ein Recht auf Bildung, die sich seiner Lebensfragen annimmt.

„Wenn dein Kind dich morgen fragt?“ Haben wir eine Antwort?

Kommentare

  1. Die Predigt gefällt mir wirklich gut. sie greigt genau die Fragen auf, die einem im Schulalltag immer wieder begegnen. Und sie zeigt wie wichtig die Neugier von Kindern ist und das sie nicht verloren gehen darf.
    Danke, für dieses Plädoyer für die Bildung.

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